Kirche als guter Ort für (junge) Menschen
Uta Pohl-Patalong

Kirche als guter Ort für (junge) Menschen

Kirche als guter Ort für (junge) Menschen

Zeitreise in eine Vision einer kinder- und jugendgerechten Kirche

Wir schreiben das Jahr 2049. Kirche ist heute ein Netz vielfältiger kirchlicher Orte, die Menschen auf unterschiedlichen Wegen erfahren lassen, was die bedingungslose Liebe Gottes für ihr Leben bedeutet. Diese Orte sind einerseits konkret auf die Lebenssituation von Menschen ausgerichtet, beispielsweise auf Familien, auf Singles, auf transidente Menschen, auf Wohnungslose, auf Geflüchtete, auf Kinder oder auf Jugendliche und junge Erwachsene. Andererseits werden genau die kirchlichen Räume für die Arbeit genutzt, die sie braucht.

Familienkirchen

So ist die Arbeit mit jungen Familien in hellen, modernen und flexiblen Kirchen mit angrenzenden Räumen angesiedelt, in denen Gottesdienste für Klein und Groß, Krabbelgruppen und unterschiedliche Bildungsangebote für Kinder und Familien stattfinden können (eingeflossen sind hier Traditionen aus den früheren „Familienbildungsstätten“). Sie sind aber auch gleichzeitig „Kinderkathedralen“ nach einem alten Vorbild in Hamburg-Bramfeld, in denen Kindergruppen biblische Geschichten spielerisch erleben können. Abends finden meditative Gottesdienste für Erwachsene zu einer Zeit statt, wenn die Kinder im Bett sind. Natürlich wird hier viel getauft und „getrauft“ und auch sonst viel gefeiert, gelacht und gespielt. Neben Angeboten von Hauptamtlichen gibt es diverse ehrenamtlich initiierte und durchgeführte Gruppen und Projekte. Hier wird eine Vielfalt von Familienmodellen selbstverständlich gelebt, geachtet und wertgeschätzt und ebenso ist eine große kulturelle und ethnische Vielfalt vorhanden.

Jugendkirchen

Ebenso gibt es Jugendkirchen, die von den jungen Menschen mit hauptamtlicher Unterstützung selbst gestaltet werden, mit vielfältigen Möglichkeiten, gemeinsam zu feiern, zu essen, zu lernen, zu chillen, zu spielen und zu beten. Dort ist auch die Vorbereitungszeit für die Konfirmation und die Konfirmationsfeier selbst angesiedelt, die in vielen verschiedenen Formen stattfindet und darauf ausgerichtet ist, dass sie für viele Jugendliche eine erste Begegnung mit Christentum und Kirche bildet. Von den Jugendlichen werden unterschiedliche Formen von Gottesdiensten und anderen spirituellen Formen gestaltet, die immer wieder neu ausprobieren, was gerade für diese Jugendlichen plausible Formen sind, die unbedingte Liebe Gottes zu erleben.

In welcher Form erleben Jugendliche die unbedingte Liebe Gottes?

Es gibt dort auch verschiedene digitale Formen von Kirche, aber auch die „analogen“ haben selbstverständlich digitale Anteile, wie es dem Leben „onlife“ entspricht. Die Hauptamtlichen vor Ort achten gemeinsam mit den Jugendlichen darauf, dass Jugendliche mit unterschiedlichen Lebensbedingungen, kulturellen und ethnischen Hintergründen gleicher- maßen Zugang haben und fördern das gemeinsame Leben und Lernen voneinander und miteinander – wie sich auch die Kirche insgesamt von ihrem Charakter als „White Church“ nach und nach entfernt hat. Und gleichzeitig haben auch die Jugendkirchen untereinander unterschiedliche Profile, die sich nach dem, was junge Menschen jeweils wollen und brauchen, richten. Es gibt Ausrichtungen, wie sie einmal vor vielen Jahren die „Villa Wertvoll“ in Magdeburg entwickelt hat, in der Kinder und Jugendliche in Tanz-, Theater- und Musikkursen ihre künstlerischen Fähigkeiten entdecken, entfalten und entwickeln können und, wie es auf der Homepage damals hieß, „die Liebe zum Leben, zu sich selbst und zu anderen entdecken“.1 Andere Orte stellen das Zusammenleben und die Förderung von Demokratie, Toleranz und Wertschätzung in den Mittelpunkt und bei wieder anderen ist ein gesellschaftspolitisches Engagement – lokal oder global – zentral.

Entwicklungsprozess

Die verschiedenen kirchlichen Orte mit ihren jeweiligen Profilen sind auf der Basis der Traditionen, Ressourcen und Schätze vor Ort entstanden. Sie wurden jedoch in einem größeren Zusammenhang miteinander abgestimmt unter der Leitfrage, wie groß die Chancen für welche Menschen voraussichtlich sind, das Evangelium von der bedingungslosen Liebe Gottes in diesen Formen zu erleben. Dieser Prozess war von Anfang an klug angelegt und wurde gut moderiert. Er war einerseits getragen von einer breiten Beteiligung sowohl von Menschen, die bereits in der Kirche engagiert waren, als auch von solchen, die es noch nicht waren. Andererseits hatte er transparente und klare Entscheidungsstrukturen, die viele Aspekte einbezogen.

Wie kann Kirche sich ständig sinnvoll weiterentwickeln?

In diesem Prozess hat sich eine Kultur einer gemeinsamen Suche nach gelingenden Kontakt- und Begegnungsmöglichkeiten mit dem Evangelium entwickelt, die manchen anfänglichen Versuch, die eigenen Pfründe zu sichern, rasch überholt hat. Dieser Prozess ist auch heute nicht zu Ende, sondern wägt mit flexiblen Formen weiterhin permanent ab, welche Formen sinnvoll sind und welche verändert werden sollten, ohne dass dies viel Zeit und Energie kostet. Dabei konnte man sich dann auch von der Idee einer möglichst vollständigen Kommunikation des Evangeliums in einem Bezirk, wie sie die Ortsgemeinde als Ideal repräsentierte, verabschieden.

Denn bei näherem Hinsehen wurde deutlich, dass schon immer Entscheidungen getroffen wurden, welche Menschen in einer Gemeinde von den jeweiligen Kommunikationsformen angesprochen wurden und welche nicht – insofern war Kirche faktisch schon immer zielgruppenorientiert und die „Gemeinde für alle“ war ein Ideal, das ungewollt dazu führte, dass nicht wenige Menschen keine kirchliche Heimat in erreichbarer Nähe fanden. Insofern wird die bewusste Orientierung an bestimmten Menschen heute von fast allen als Gewinn erlebt, weil sie dazu führt, dass alle vielleicht nicht in fußläufiger Entfernung, aber immerhin in einer Region „ihren“ kirchlichen Ort finden können, wenn sie es wollen. Dabei hat sich die Befürchtung, dass Menschen überhaupt nur zur lokalen Kirche gehen würden und gerade auf dem Land für fast alles, nicht aber für die Kirche mobil sind, rasch gegeben. Wichtig war dabei die Übergangszeit von zehn Jahren, in denen sich die verschiedenen kirchlichen Orte allmählich entwickelten und gleichzeitig ein kirchliches Mobilitätsnetz gestaltet wurde (mittlerweile selbstverständlich klimaneutral und ohne personelle Ressourcen). Insofern wird niemand aufgrund einer fehlenden Mobilität daran gehindert, zu „seinem“ oder „ihrem“ kirchlichen Ort zu gelangen – und diese sind so attraktiv, dass die Wege zweitrangig sind.

Vielfältige Formen der Spiritualität

Wie an jedem kirchlichen Ort durchziehen auch in den Familienkirchen und den Jugendkirchen vielfältige Formen von Spiritualität in selbstverständlicher Weise den gemeinsamen Alltag. Inhaltliche Treffen werden mit inspirierenden Texten, gemeinsamem Singen, meditativen Elementen oder Stille verbunden. Die Einrichtung aller Gebäude und Räume strahlt eine ansprechende, einladende Atmosphäre aus, die mit allen Sinnen erfahren lässt: Hier ist gut sein. Dies ist geradezu zu einem Erkennungsmerkmal von Kirche geworden: Wer einen kirchlichen Ort neu kennenlernt, spürt sofort, dass er so gestaltet wurde, wie es Menschen und ihrer Seele wohl tut. Und der einladenden Atmosphäre entspricht auch, dass man eigentlich immer Personen findet, mit denen man leicht in Kontakt kommt und die ein offenes Ohr dafür haben, was einen bewegt.

Dabei kommt es wiederum gar nicht darauf an, für welche Zielgruppe der Ort eigentlich konzipiert ist. Denn manche Formen ziehen dabei auch andere Menschen an – ein diakonisch ausgerichteter Ort lässt beispielsweise Menschen die Bedeutung des Evangeliums für ein soziales und gerechtes Miteinander erleben oder Gottesdienste für Menschen im Erstkontakt mit dem Evangelium werden auch von solchen besucht, die seit Jahrzehnten kirchlich aktiv sind. Für wieder andere geht es gar nicht so sehr um die Angebote, sondern um die Atmosphäre – und auch die sind willkommen.

Kirche im öffentlichen Raum

Über die kirchlichen Orte hinaus ist Kirche aber auch im öffentlichen Raum in der gemeinsamen Arbeit mit anderen sehr präsent. Beispielsweise gibt es – inspiriert von dem Projekt „Wiesbaden hält inne“ schon vor etlichen Jahrzehnten – in vielen Städten einmal im Jahr eine „Woche der Stille“, die von den Kirchen gemeinsam mit der Stadt und anderen Religionsgemeinschaften veranstaltet wird: mit einem Stille-Pavillon auf einem zentralen Platz, Stille-Inseln mit Schallschutzkopfhörern, einem reichhaltigen Veranstaltungsangebot vieler Einrichtungen (von Nachtkonzert, Film, Lesung, Bildmeditation, Gesundheitsforum bis zu meditativen Stadtrundgängen und einer Busfahrt im Schweigen).

Diese prägt auch die Schulen in dieser Woche und die Kinder und Jugendlichen freuen sich schon Wochen vorher darauf. Ebenso ist Kirche mit diesen Formen eine gefragte Partnerin für zivilgesellschaftliche Arbeit und wesentliche Themen des Zusammenlebens. Es ist deutlich, wo die jeweiligen Fachleute sowie engagierte Ehrenamtliche für die Themen zu finden sind und Kirche hat längst nicht mehr den Ruf, nur „das Eigene“ zu vertreten, sondern sich uneigennützig auf der Basis der Liebe Gottes zur gesamten Schöpfung für Menschen, Tiere und die Schöpfung zu engagieren.

Haupt- und Ehrenamt

Für die Hauptamtlichen hat diese bewusst exemplarische Arbeit viel Druck herausgenommen, weil der permanente Kampf, was eigentlich doch getan werden sollte, obwohl es zu viel ist, und was man vielleicht doch mal lassen müsste, entschieden ist. Niemand versucht mehr, allen alles zu sein. Die bewusste Begrenzung macht deutlicher, dass jede Gemeinde und jeder kirchliche Ort gemeinsam mit vielen und ganz anderen Kirche Jesu Christi ist. Sie ist auf die anderen angewiesen und lässt deren Stärken und Fähigkeiten deutlicher in Erscheinung treten in dem Bewusstsein, dass andere Menschen andere Wege beschreiten mit demselben Ziel: Das Evangelium von der unbedingten Liebe Gottes zur Welt so zu kommunizieren, dass möglichst viele und unterschiedliche Menschen es in ihrem Leben konkret spüren. Dies können die Hauptamtlichen für ihren Bereich mit Liebe und Leidenschaft tun, weil sie einen klaren Aufgabenbereich haben und nicht für (zu) vieles zuständig sind.

Wie kann es gelingen, für Hauptamtliche den Druck zu reduzieren?

In diesem Prozess haben sich auch die kirchlichen Berufsbilder verändert. Jeder kirchliche Ort hat bestimmte Stellenprofile, die zum einen von der Berufsgruppe besetzt werden, die dafür am besten ausgebildet ist. Gleichzeitig hat sich aber auch die Zahl von Stellen, die genau von der richtigen Person besetzt sind, enorm erhöht, denn die Ausschreibungen machen ja transparent, welche Arbeitsbereiche hier gefragt sind und welche Fähigkeiten gebraucht werden. Hauptamtliche bewerben sich gezielt auf Stellen, die ihren Talenten und Neigungen entsprechen. Der Abschied von der Idee der „pastoralen Versorgung“ in möglichst großem Umfang war nicht ganz leicht, weil er mit vielen Emotionen und auch mit Identitäten verbunden war, aber mittlerweile ist der Gewinn so deutlich, dass ihm nicht mehr viele nachtrauern. Nach wie vor sind die Hauptamtlichen auch als Personen wichtig für den Kontakt zur Kirche und vor allem zur christlichen Tradition, aber entscheidend ist nicht die persönliche Beziehung und Bindung an diese, sondern ihre Rolle für die Begegnung mit dem Evangelium.

Und gleichzeitig wird Kirche heute in einem hohen Maße ehrenamtlich gestaltet. Dabei hat sich längst die Erkenntnis durchgesetzt, dass freiwillig Engagierte nicht Lücken füllen und Arbeitsfelder aufrechterhalten. Das Priestertum aller Gläubigen wird so umgesetzt, dass jedem Menschen – gläubig oder zum Glauben eingeladen2 – verantwortungsvolles Engagement in der Kirche zuge- traut wird und dafür ausgezeichnete Bedingungen bereitgestellt werden. Zu einem großen Teil folgt die Kirche dabei der Idee von Engagement, die früher einmal „neues Ehrenamt“ hieß.

Immer noch werden manchmal Menschen gezielt für einen bestimmten Bereich gesucht. Dafür werden aber nicht ohnehin schon sehr Engagierte angesprochen, ob sie nicht noch eine zusätzliche Aufgabe übernehmen würden, sondern die „Freiwilligenbörsen“ in gemeinsamer kommunaler und kirchlicher Trägerschaft werden gebeten, diesen Bereich in ihr Angebot, in welchen Bereichen man sich gesellschaftlich, kulturell, sozial und kirchlich engagieren kann, aufzunehmen. Denn die Börsen sind dafür zuständig, mit Menschen gemeinsam zu überlegen, in welchen Bereichen ihre Fähigkeiten liegen, welche sie stärken und entwickeln möchten, was sie dafür brauchen, wo sie sich in welcher Weise engagieren möchten, wie umfangreich diese Tätigkeit sein soll und wie lange diese gehen soll.

Wie kann Ehrenamt wertschätzend und fachlich begleitet werden?

Dass Kirche dabei ein besonders attraktives Feld für ehrenamtliches Engagement ist, erzeugt manchmal einen gewissen Neid bei den anderen Bereichen. Sie müssen aber auch zugeben, dass dort die Atmosphäre, das Miteinander, die Motivation, die Wertschätzung und das Zutrauen zu Menschen besonders ausgeprägt ist – und es wird immer wieder vermutet, dass dies etwas mit der christlichen Botschaft und ihrem Menschenbild zu tun hat. Zudem ist die Begleitung Ehrenamtlicher durch Haupt- amtliche einfach sehr gut. Vor allem Gemeindepädagog:innen, in ihrer Ausbildung dafür ausgezeichnet qualifiziert, stehen den freiwillig Engagierten fachlich und menschlich zur Seite und begleiten sie kompetent, förderlich und wertschätzend.

Ein Ort für Initiativen

Daneben ist aber Kirche auch ein guter Ort für eigene Initiativen von Menschen, die gemeinsam an bestimmten Themen arbeiten oder ganz einfach gemeinschaftlich-gesellig zusammenkommen möchten. Auch dafür gibt es Raum und Unterstützung, beispielsweise für Eltern-Kind-Gruppen, für die Unterstützung Geflüchteter oder für die Entwicklung noch nachhaltigerer Produkte. Nicht nur bei Kirchenmitgliedern, sondern in der gesamten Gesellschaft gilt „Kirche“ als guter Ort für die eigenen Ideen, Anliegen und Initiativen. Dabei treffen sich auch immer wieder Menschen und Bevölkerungsgruppen, die sich in anderen Zusammenhängen kaum begegnen, sich voneinander abgrenzen oder sich sogar feindlich gegenüberstehen würden. Dass die eine oder andere Person auf diese Weise neugierig wird, aus welchem Geist heraus dies eigentlich lebt und funktioniert, ist sehr willkommen und solche Fragen finden immer gute Gesprächspartner:innen – mit offenem Ergebnis, aber oft mit dem Eindruck der Bereicherung und neuer Nachdenklichkeit auf beiden Seiten. Und Kircheneintritte sind heute mindestens ebenso normal wie Kirchenaustritte.

Gerade unter jungen Menschen hat Kirche damit das Image, dass sie ein guter Ort für das eigene Leben sein kann, an dem man willkommen ist und wertgeschätzt wird, an dem man großartige andere Menschen trifft und etwas für sich bekommt, an dem man wachsen darf und eine Idee für das eigene Leben finden kann, an dem man gerne Zeit verbringt und Raum und Unterstützung dafür bekommt, auf das Wesentliche im Leben zu achten und zu spüren, dass es mehr gibt als das, was man sehen und anfassen kann.

Dr. Uta Pohl-Patalong ist Professorin für Praktische Theologie und Religionspädagogik an der Universität Kiel. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte ist die Zukunft

Du hast Interesse am Thema „Kirche der Zukunft und Zukunft der Kirche“?
Du findest weitere Artikel dazu in der Ausgabe 2/24 fancy, churchy, cringe
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Titelbild: Bunte Ballons bei der Kirche Kunterbunt (Foto: Arnica Mühlendyck)

Literatur

  • 1 https://www.villa-wertvoll.de/konzept/ (Abruf 3.2.2024)
  • 2 Formuliert für die Formulierung des „Priestertums aller Gläubigen“ in Anlehnung an Christian Grethlein, Kirchentheorie. Kommunikation des Evangeliums im Kontext, Berlin/Boston 2018, 196, der in dieser Weise das „Priestertum aller Getauften“ auf die „zur Taufe Eingeladenen“ erweitert.

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