Arm dran und arm drauf
Ein Gespräch mit Martin Schenk, stellvertretender Direktor der Diakonie Österreich.
baugerüst: Sie sind der stellvertretende Direktor der Diakonie Österreich, Psychologe und Autor mehrerer Bücher zum Thema Armut. Sie sind quasi der Spezialist für das Thema „Armut“ in Österreich. Wie ist es um Armut, speziell mit dem Blick auf Kinder und Jugendliche, in Österreich bestellt?
Schenk: Österreich gehört grundsätzlich zu den Ländern mit einer geringeren Armutsquote, auch im Bereich der Kinderarmut. Die sozialstaatlichen Sicherungssysteme greifen in Österreich gut. Es gibt eine starke monetäre Umverteilung und viele soziale Dienstleistungen. Allerdings gibt es zu wenige Leistungen, die speziell Kindern helfen. Ohne diese Leistungen würden rund 45 Prozent der Haushalte unter der Armutsgrenze leben. So sind es 13 Prozent. Immer noch viel, aber vergleichsweise natürlich weniger.
baugerüst: Wenn die Lage nicht so schlecht ist: Woher kam dann die Idee, dass ein Kinderarmutspaket verabschiedet werden muss?
Schenk: Durch die präventiven Maßnahmen ist die Lage nicht so schlimm, das stimmt. Es ist aber so, dass es innerhalb des sozialstaatlichen Systems Lücken, Fehlentwicklungen und Problemlagen gibt, die dazu führen, dass bestimmte Gruppen viel weniger gesichert sind, als andere. Diese fallen dann trotz der Hilfen durch die sozialen Netze. Dazu gehören Alleinerziehendenhaushalte, Menschen, die länger als ein Jahr arbeitslos sind, Menschen mit chronischen psychischen oder physischen Erkrankungen und alleinstehende Frauen über 65.
Das Kinderarmutspaket nun ist eine befristete Maßnahme, bei der über eineinhalb Jahre pro Monat 60 Euro zusätzlich pro Kind ausgezahlt werden. Dadurch soll die Teuerung abgefangen werden. Haushalte, die unter der Sozialhilfegrenze sind, Alleinerziehende und Haushalte von Geringverdienenden bekommen das Geld, das sind rund 70.000 Kinder und Jugendliche. Man muss nicht nachweisen, wofür man das Geld ausgibt, es soll einfach das Haushaltseinkommen erhöhen.
baugerüst: Kommt das Geld direkt bei den Kindern an, wie schätzen Sie das ein?
Schenk: Gerade in armen Haushalten wird das Geld sinnvoll eingesetzt. Natürlich nicht unbedingt unmittelbar für die Kinder, das ist ja auch logisch. Das Problem in diesen Haushalten ist ja eher, dass immer Löcher gestopft werden müssen. Da geht es um Miete, um Strom, mal um einen Schulausflug, oder es ist etwas kaputt gegangen, das ersetzt werden muss. Das wirkt trotzdem indirekt auf die Kinder. Das Vorurteil, dass Eltern das Geld einfach in Alkohol oder Spiel umsetzen, das stimmt einfach nicht, wir haben das in einer Studie untersucht. Natürlich gibt es solche Fälle auch, aber das ist nur ein minimaler Anteil.
baugerüst: Warum gilt das Paket nur für eineinhalb Jahre? Was ist ihre Einschätzung als Profi zu diesem Paket?
Schenk: Das Paket wirkt eigentlich nicht gegen Kinderarmut an sich geht, sondern soll nur die Teuerung durch die hohe Inflation abfangen. Grundsätzlich muss man im Kampf gegen die Armut drei Dinge gleichzeitig tun: Zum einen muss die Teuerung ausgeglichen werden, das tut das Paket. Das ist generell nicht schlecht gelungen in Österreich, da gibt es einige vernünftige Maßnahmen, durch die Geld nach unten verteilt wird. Doch wenn man die Teuerung ausgleicht, ist noch nicht alles in Ordnung, denn in von Armut betroffenen Haushalten war auch vorher schon nicht alles in Ordnung. Der zweite Punkt ist also, dass Armut weiterhin effektiv bekämpft werden muss. Und das dritte ist, dass die Preise gedämpft werden müssen. Diese drei Dinge müssten gleichzeitig passieren. In Österreich wurde allerdings zu spät auf die Preise eingewirkt und auch die Maßnahmen zur konkreten Armutsbekämpfung steht noch aus.
Martin Schenk, stellvertretender Direktor der Diakonie Österreich.
baugerüst: Was brauchen Kinder und Jugendliche noch in Bezug auf Armut?
Schenk: In einer Studie, die wir durchgeführt haben, wurden Jugendliche gefragt, was sie sich unter Armut vorstellen. Sie haben zwei Begriffe genannt: Wenn man arm ist, dann ist man entweder „arm dran“ oder „arm drauf“. „Arm dran“ bezieht sich mehr auf das Materielle, also beispielsweise, wenn die Miete nicht bezahlt werden kann oder die Eltern arbeitslos werden oder wenn es daheim kalt ist, weil man nicht heizen kann. „Arm drauf“ bezieht sich darauf, dass ein Kind aus finanziellen Gründen nicht am Schulausflug teilnehmen kann oder dass es wegen der „falschen“ Kleidung gemobbt wird in der Schule. Diese beiden Begriffe verbinden, was Armut ist: Ein Mangel an lebenswichtigen, materiellen Gütern auf der einen Seite und ein Mangel an sozialen, emotionalen Möglichkeiten, die man für ein gutes Leben braucht, also zum Beispiel Zuwendung, Anerkennung, Freunde zu haben. Das macht das Leben erst reich. Der Mensch lebt nun mal nicht vom Brot allein.
baugerüst: Was tun Sie in der Diakonie, um diese Symptome zu bekämpfen?
Schenk: Man muss auf der politischen und auf der strukturellen Ebene die Bereiche betrachten, in denen der Mangel besteht. „Deprivation“ ist der Fachbegriff, wenn Kinder zu wenig haben. Sie sind dessen beraubt, was für andere selbstverständlich ist. Viele Dinge, die für ein gutes Aufwachsen nötig sind, sind dann nicht gegeben, zum Beispiel eine trockene, warme Wohnung und eine gute Gesundheitsversorgung. Genau dort springen wir als Diakonie ein und bieten Ausgleich an. Derzeit gibt es ein relativ neues Phänomen in Österreich, das ein Ost-West-Gefälle im Mietbereich zur Folge hat. Bisher gab es im Osten einen starken gemeinnützigen Wohnungsbau, vor allem in Wien und in der Steiermark.
In Wien sind fast 2/3 der Wohnungen im öffentlichen Eigentum, das hat einen positiven Einfluss auf die Mietpreise. Aber wir merken, dass es trotzdem schwieriger wird, denn Wien wächst schnell. Im Westen gibt es den gemeinnützigen Wohnungsmarkt nicht in diesem hohen Maß, dort regelt der Markt die Mietpreise. In Salzburg, Innsbruck und Bregenz kann man mit einem Durchschnittseinkommen einfach nicht mehr leben, und wenn man arm ist, schon gar nicht. Zu uns kommen viele Menschen, die hohe Mietrückstände haben. Wir versuchen grundsätzlich mit der Politik in Österreich Möglichkeiten zu entwickeln, beispielweise ein Konjunkturpaket für den sozialen Wohnbau. Auch im Bereich der Energiegrundsicherung erarbeiten wir ein mögliches Konzept, damit Energie verbilligt oder kostenlos angeboten werden kann.
baugerüst: Das geht über reine Symptombekämpfung aber hinaus.
Schenk: Ja, das stimmt. Die evangelische Kirche ist zwar mit drei Prozent eine Minderheitenkirche in Österreich, trotzdem ist die Diakonie sehr stark, wir sind fast so groß wie die Caritas. Dadurch haben wir viele Möglichkeiten, politisch gehört zu werden und das nutzen wir auch.
baugerüst: Was kann die Evangelische Jugend beitragen im Kampf gegen Kinder- und Jugendarmut?
Schenk: Überall dort, wo der Sozialraum wichtig ist, da können Gemeinde und Evangelische Jugend ansetzen. Sie können drei wichtige Dinge anbieten: Einen konkreten Ort, Kontakte mit echten Menschen, denen man „face to face“ begegnen kann und eine Regelmäßigkeit. Das fehlt uns doch in Zeiten der Digitalisierung. Gemeinsam mit Gemeinden haben wir das Konzept für das „Warme Platzerl“ entwickelt. Das ist ein absichtsloses Treffen, ähnlich wie ein Pfarrcafé, aber unter der Woche. Das Projekt ist auch durch die Teuerung entstanden, viele Gemeinden probieren das jetzt aus. Das „warme Platzerl“ ist quasi ein konsumfreier Aufenthaltsraum, in dem schöne Dinge passieren, beispielsweise kann man sich zum Karten spielen treffen oder Adventskränze basteln. Eine Gemeinde hat ein „Plaudertischerl“ draus gemacht, da wird dann immer jemand eingeladen, um zu einem bestimmten Thema ins Gespräch zu kommen. Das haben wir als Diakonie gern begleitet.
baugerüst: Ich habe noch eine ganz andere Frage: Ich habe sehr lange nach jemanden gesucht, der etwas über den Zusammenhang zwischen Klimawandel und Armut schreiben kann für dieses Heft. Auf Ihrer Website habe ich jetzt entdeckt, dass Sie dieses Thema in einem Artikel beleuchtet haben. Können Sie die wichtigsten Punkte eventuell für mich zusammenfassen?
Schenk: Sehr gerne. Wichtig sind zwei Punkte, die zusammenhängen. Zum einen ereilt die Klimakrise nicht alle in gleichem Maß. Armutsbetroffene sind viel stärker betroffen. Beispielsweise gab es in diesem Sommer viele Hitzetote in Österreich. Das waren meistens ältere Menschen in Vierteln mit geringerem Einkommen. Diese Menschen sind meistens verwundbarer und weniger widerstandsfähig gegen die Hitze, aber auch das soziale Netz fehlt. Die Menschen, die gestorben sind, waren eigentlich alle einsam. Allein sein ist auch ein Effekt, den Armut hat.
Das war jetzt nur ein Beispiel, aber es zeigt, dass die Auswirkungen des Klimawandels für Menschen in Armut viel stärker sind. Aber die Einkommensärmsten stoßen viel weniger CO2 aus, sie sind quasi Klimaschützer wider Willen. Zynisch könnte man sagen, dass Armut den Klimaschutz fördert. Es ist eine Fehlannahme, dass Menschen weniger CO2 ausstoßen, wenn sie im Alltag klimabewusster handeln. Der CO2-Ausstoß hat einfach mit der Lebenssituation zu tun. Je höher das Einkommen, desto mehr wird konsumiert, geflogen, Urlaub gemacht, desto größer sind die Autos und dergleichen – also desto höher ist der CO2-Ausstoß.
Martin Schenk spricht im Interview über das Kinderarmutspaket, das im Juni 2023 in Österreich verabschiedet wurde, über die Auswirkungen und Ursachen von Armut und über den Zusammenhang zwischen Klimawandel und Armut. Er ist der stellvertretende Direktor der Diakonie Österreich. Das Interview führte Arnica Mühlendyck (verantwortliche Redakteurin beim „baugerüst“ seit 2022) im Dezember 2023 via Zoom-Call.
Du hast Interesse am Thema „Kinderarmut“?
Du findest weitere Artikel dazu in der Ausgabe 1/24 Von armen und reichen Kindern.
Titelbild: Martin Schenk (alle Fotos: Luiza Puiu)
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