Macht keinen Sinn
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Vom Sinn des Lebens und vom Leben des Sinns – Eine christliche Besinnung
Gebrauchsanweisung: langsam abknabbern und dann gründlich durchkauen
Der Sinn des Lebens?
Kein Problem! An respektablen Sinnangeboten mangelt es nicht. Im Angebot sind zum Beispiel Erfolg, Gesundheit, Anständigkeit, Frömmigkeit, Familie, Garten, Reisen, „die Welt ein bisschen besser machen“ und vieles mehr. Macht alles Sinn. Das Problem ist nicht die Sinnsuche (als hätte sich der Sinn irgendwo versteckt wie der Heilige Gral), sondern die Qual der Wahl. Es geht darum, was du glaubst, worauf du setzt im Leben und im Sterben, was dich packt und nicht mehr loslässt. Der Theologe Paul Tillich hat es so formuliert:
„Glaube ist das Ergriffensein von dem, was uns unbedingt angeht. Der Mensch ist wie jedes andere Lebewesen von der Sorge um viele Dinge betroffen, besonders von der Sorge um Dinge, die sein Leben bedingen, wie Nahrung und Obdach. Und der Mensch hat im Unterschied von anderen Lebewesen auch soziale und politische Anliegen. Manche von ihnen sind dringlich, einige äußerst dringlich, und jedes von ihnen kann ebenso wie die Dinge des täglichen Lebens unbedingtes Gewicht für das Leben eines einzelnen Menschen wie das einer Gesellschaft gewinnen. […]
Wenn eine nationale Partei oder Gruppe das Gedeihen und die Macht der Nation zu ihrem letzten Anliegen macht, zu dem, was sie unbedingt angeht, so fordert sie, dass ihm alle anderen Anliegen geopfert werden, sowohl wirtschaftlicher Wohlstand, Gesundheit, Leben und Familie, ästhetische und Erkenntniswerte als auch Gerechtigkeit und Humanität. Der extreme Nationalismus unseres Jahrhunderts in all seinen Schattierungen ist geradezu ein Laboratoriumsfall für eine Untersuchung dessen, was ‚letztes Anliegen’ in allen Bereichen menschlichen Daseins bedeutet. Alles wird ausgerichtet auf den einzigen Gott: die Nation […]
Ein anderes Beispiel ist das Anliegen des Erfolgs, des sozialen Prestiges und der wirtschaftlichen Macht. Das ist der Gott vieler Menschen in der hochentwickelten vom Konkurrenzkampf beherrschten Zivilisation des Westens […] Glaube ist das Ergriffensein von etwas, das uns unbedingt angeht. Dabei ist der jeweilige Inhalt des Glaubens zwar für den Gläubigen und sein Leben von unendlicher Bedeutung; aber er ist für die formale Definition dessen, was Glaube ist, nicht bestimmend.“1
Exkurs: Moral als Lebensschlüssel?
Eine der populärsten Lebensreimformen ist Moral. Die christliche Religion hat mit den Jesustraditionen gezeigt, dass Moral zwar sehr, sehr wichtig ist, aber nicht als Lebensschlüssel taugt: Moral macht ordentlich, aber nicht lebendig. Wer mit Moral das Leben nicht nur aufräumen, sondern heilen will, wird es abtöten. Moral macht Sinn, aber heilt nicht den ganz normalen Wahnsinn.
Die christliche Religion ist also keine harmlose Religion. Sie vollzog die revolutionärste Umwertung allen Wertens aller Zeiten. Bei Religion geht es angeblich darum, ethisch-moralisch möglichst viel zu leisten. Aber die christliche Religion fängt erst da richtig an, wo Vorbildlichkeit versagt. Die Strenggläubigen und die Glaubensstreber sind hier an der falschen Adresse.
Die Sache mit dem geglaubten Sinn des Lebens (ich habe dafür das Wort „Lebenswette“ geprägt) ist also doppelt anspruchsvoll: Wir haben die Qual der Wahl, aber zugleich haben wir auch keine Wahl, weil die Sinnfrage eine Herzensangelegenheit ist und es um Begeisterung und Überwältigtsein geht. Zum Glück gibt es ein nachhaltiges Qualitätskriterium, nämlich die Frage nach dem Leben des Sinns und dem Leben all der möglichen Sinnangebote. An dieser Stelle muss man allerdings den Verstand einschalten und für einen Moment hochtourig laufen lassen. Denn wir bekommen es mit Unsinn und dem ganz normalen Wahnsinn zu tun. Ohne Quatsch. Und „wer nicht denken will, fliegt raus!“ (Joseph Beuys)
Triggerwarnung: Vorübergehend ungemütlich
LebensUnsinn
Wer die Frage nach dem Sinn des Lebens stellt, will sich einen Reim machen: auf sich, auf die anderen, auf Gott und die Welt. Damit ist die Frage „Was ist der Sinn des Lebens?“ jedoch chronisch irreführend und sinntötend. Denn es macht alles gar keinen Sinn. Es ist einfach der Wurm drin. Shit happens. Irgendetwas ist immer. Der ganz normale Wahnsinn. Der Komiker Dieter Nuhr hat in einem Interview gesagt: „Ein wichtiger Punkt in meinem Humor ist Anspruch und Wirklichkeit gegeneinander laufen zu lassen. Das halten viele Menschen nicht aus, weil sich dadurch Probleme offenbaren, die nicht lösbar sind.“
Sinnstiftend ist dagegen die Frage: Was soll der Scheiß? Wie kann man den ganzen Unsinn des Lebens verantworten? Wie gehen wir mit der offensichtlichen und peinlichen Absurdität und Kontingenz des Lebens um? Das Leben enthält Spuren von Müssen. Das Leben ist nicht fair. Eben dies, die Frage nach dem Unsinn des Lebens, ist die (in Vergessenheit geratene) smarte, evangelische, christliche Version der Sinnfrage. Nicht wir stellen hier die Fragen, sondern das Leben stellt Fragen. Existenziell interessant und bedeutsam ist nicht unsere kindische Streberei mit Fragen, die wir uns stellen, weil wir schlau erscheinen wollen, uns einen Reim machen wollen und der Lehrerin eine Freude. Sondern sinnstiftend sind die Fragen, die das Leben stellt, in die das Leben uns stellt, die unseren Lebensnerv treffen:
„Holen wir zu einer Rückbesinnung auf die ursprüngliche Struktur des Welterlebens aus, dann müssen wir der Frage nach dem Sinn des Lebens eine kopernikanische Wendung geben: Das Leben selbst ist es, das dem Menschen Fragen stellt. Er hat nicht zu fragen, er ist vielmehr der vom Leben her Befragte, der dem Leben zu antworten – das Leben zu verantworten hat.“2
Viktor E. Frankl
Das Leben konfrontiert uns immer wieder mit Situationen, die völlig absurd sind.
![Ein Bild von einem Mann, der vor einem Dinosraurierschädel sitzt.](https://jugendarbeit.de/wp-content/uploads/2024/08/saurier1-1024x683.jpg)
Das Leben in natürlicher Dummheit verantworten: das ist der Unsinn des Lebens. (Dieses Register steht Künstlicher Intelligenz nicht zur Verfügung.) Wir wissen es nicht, wir müssen alle dran glauben – so oder so. Wer glaubt, weiß es ja nicht besser. Aber wer schlau ist und viel weiß, weiß um die Sterblichkeit all unseres Wissens und macht sich nichts vor. Er berücksichtigt auch intellektuell unsere Sterblichkeit (alias Geburt) und unsere Geburtlichkeit (alias Tod), wovon unleibliche Programme und Androiden keine Ahnung haben können. In diesem Sinne hat nicht nur theologisches Denken, sondern auch künstlerisches Schaffen einige Übung im Umgang mit dem Unübersichtlichen und Unwissbaren. Das ist der Übergang von der abgedroschenen Phrase („Kommunikation des Evangeliums“) zum gewagten Geschehen („Improvisation des Evangeliums“).
Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist chronisch irreführend
Fazit
Die Institution Kirche war einmal die Lösung eines Problems, an das sich keiner und auch sie selbst nicht mehr erinnert. Die organisierte Christenheit müsste zurückfinden an den existenziellen Nullpunkt. Der Philosoph Immanuel Kant hatte 1781 direkt mit dem ersten Satz seiner Kritik der reinen Vernunft auf eine „schuldlose Verlegenheit“ hingewiesen. Es sei das besondere Schicksal menschlicher Vernunft, „dass sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann.“
Mehr noch, existenzielle Fragen stellten eine „notwendige, aber unlösbare Aufgabe“ dar. Das buchstäblich einzig Vernünftige scheint hier, diese Fragen nicht mit Sinnangeboten zu ersticken, sondern den Unsinn Luft holen zu lassen. Dies wird in der christlichen Religion praktiziert. Hier zeigt sich die Gottesebenbildlichkeit des Menschen nicht in seiner Altklugheit, sondern in seiner Frag-Würdigkeit. Noch einmal: Es geht nicht um Fragen, die wir uns stellen können (zum Beispiel wenn wir eine Neigung zu religiösen und philosophischen Themen haben), sondern es geht um Fragen, in die jeder Mensch gestellt ist mit seiner Existenz.
Menschen sind hochmotivierte Existenzialisten. Auf jeden Menschen warten Fragen, die sich ihm früher oder später stellen: Wer bin ich? Bin ich gut? Was wird aus mir? Warum gerade ich? Warum gerade ich nicht? Warum?! Es handelt sich um existenziell evozierte Fragen, die nicht beantwortet, sondern verantwortet werden wollen.
… wir aber predigen Christus, den Gekreuzigten, den Juden ein Ärgernis und den Heiden eine Torheit… (1. Kor 1,23)
Die menschliche Existenz ist „leicht zerbrechlich.“ Zu ihr gehören das unverschämte Glück, die unausweichliche Schuld, die schockierende Gewalt, der plötzliche Tod, das quälende Leid, die endlose Langeweile, die Dämonen der Einsamkeit. Der Philosoph Immanuel Kant hat gesagt, dass man Mut haben muss, sich damit auseinanderzusetzen. Die Welt anschauen, staunen, bangen, hoffen, fragen: Das ist die menschliche Fragbürde.
Bis heute zeigen sich Theologen ansprechbar auf die Frage nach dem Sinn des Lebens. Das war und ist ein Kategorienfehler und eine Kompetenzüberschreitung. Selbst die Naturwissenschaften sind inzwischen rechnerisch und messtechnisch in paradoxe und komplexe Sphären vorgedrungen, wo sie das Erzählen als optimales Medium (wieder)entdecken. Mit Bezug auf 1. Korinther 1,23 sagt die Theologin und Therapeutin Ulrike Schneider-Harpprecht: „Aufgrund ihres Kontextes sind Theologen fähig zu wissen, dass sie in der Welt von ‚Gottes Unsinn’ reden.“ 3
Macht Sinn, oder?
Dr. Bernd Beuscher ist emeritierter Professor für praktische Theologie. Sein besonderes Anliegen gilt der theologischen Aufklärung.
Du hast Interesse am Thema „Sinnsuche“?
Du findest weitere Artikel dazu in der Ausgabe 4/23 Sinnsuche und Individualismus.
Titelbild: Eine Frau, die bei Regen in einen Pool sieht. (alle Fotos: Bernd Beuscher)
Literatur
- 1 Paul Tillich, Wesen und Wandel des Glaubens, Frankfurt 1975, 9-12
- 2 Viktor E. Frankl, Ärztliche Seelsorge. Grundlagen der Logotherapie und Existenz- analyse, Frankfurt 1983, 72.
- 3 Ulrike Schneider-Harpprecht, Mit Symptomen leben, Münster 2000, 221
- Tipp: www.theofy.de – Eine von Bernd Beuscher entwickelte App zur theologischen Aufklärung
Rückmeldungen