Solidarität mit jungen Menschen

Ein Plädoyer für die Unterstützung einer Generation
Samstags in der Fußgängerzone einer größeren Stadt in Deutschland. Menschen stehen zusammen, protestieren und halten Banner und Plakate in die Luft „Solidarität mit…“ und dann steht da ein Name. Ein Name eines politisch verfolgten Menschen, von Volksgruppen oder Menschen, die Not leiden und unsere Unterstützung brauchen. Das macht Solidarität aus. Solidarität ist eine Haltung, die Zusammenhalt und Verbundenheit ausdrückt. Eine Haltung, die praktisch wird, indem sie unterstützt und sich für andere Menschen einsetzt. Eine Haltung, die zeigt, dass Menschen füreinander eintreten und sich gegenseitig helfen. In den gesetzlichen Versicherungen in Deutschland ist diese Haltung im Solidaritätsprinzip sogar institutionalisiert.
Würde ich heute – vor der Bundestagswahl im September 2021 – ein Schild auf der Straße in die Höhe halten, stünde „Solidarität mit jungen Menschen“ in großen Buchstaben darauf. Es gibt viele Personengruppen, mit denen ich mich solidarisch zeigen möchte und die meines Erachtens wirklich Unterstützung brauchen. Ich bin aber auch der Überzeugung, dass es die junge Generation ist, die meiner und unserer Solidarität bedarf.
Die Corona-Pandemie lässt mich fragen, welchen Platz junge Menschen in unserer Gesellschaft haben. Die Pandemie ist eine Tiefenkrise für unsere Gesellschaft. Sie betrifft alle Ebenen unserer Existenz und zwar sowohl individuell wie kollektiv.1 Als derartige Krise hat sie Auswirkungen auf Gegenwart und Zukunft der jungen Generation – und zwar so, dass es nötig ist zu handeln und für sie einzutreten. Natürlich betrifft die Krise jeden Menschen auf der Erde in unterschiedlicher Weise und die Nöte sollten nicht gegeneinander ausgespielt oder aufgewogen werden.
Herausforderungen und Probleme
Für unsere Gesellschaft sehe ich es als wirklich wichtig an, sich mit jungen Menschen zu solidarisieren. Die Tiefenkrise der Corona-Pandemie hat einige Probleme für junge Menschen geschaffen, vielmehr hat sie jedoch bereits bestehende Herausforderungen ans Licht geholt und verdeutlicht. Sie zeigen, dass die junge Generation um ihren Platz in der Gesellschaft zu kämpfen hat – und zwar in mehreren Bereichen:
Die Junge Generation sieht weniger optimistisch in die Zukunft
Eigentlich, so verdeutlicht es die Shell-Jugendstudie 2019, blicken junge Menschen mehrheitlich (58 Prozent) optimistisch in die Zukunft und sehen es auch als möglich an, ihre beruflichen Wünsche zu verwirklichen (84 Prozent)2. Diese Sichtweise hat sich durch die Corona-Krise verändert. Verschiedene Studien, wie die Sinus-Jugendstudie 2020 oder die Studie „Junge Deutsche 2021”, führen vor Augen, dass die junge Generation nun weniger optimistisch in die Zukunft sieht und nun auch Zukunftssorgen und -ängste hat. Diese beziehen sich wie schon 2019 auf die Klimakrise – aber auch auf die persönlichen Zukunftsperspektiven junger Menschen. Laut „Junge Deutsche 2021” sehen 30 Prozent der Befragten ihre Perspektiven als verschlechtert an.3 „Fast ein Drittel eines jeden Jahrgangs werden durch die Corona-Pandemie in einer empfindlichen Phase des Lebenslaufs getroffen, in der sie gerade dabei sind, ihre Position für die künftige Ausbildung und Berufstätigkeit aufzubauen. […] Im Jugendalter und jungen Erwachsenenalter entscheidet sich, ob man die Hürden für wichtige Übergänge schafft oder nicht.“4
Platz in der Gesellschaft finden
Die Zukunftssorgen der jungen Menschen scheinen demnach nicht unbegründet zu sein. Sie trifft die mehrdimensionale Corona-Krise in einer prägenden Lebensphase. Daher brauchen junge Menschen unsere Solidarität, damit ihre Chancen und Zukunftsperspektiven nicht schlechter werden und sie ihren Platz in der Gesellschaft finden. Um diesen Platz kämpfen sie schon jetzt und werden von Entscheidungsträger*innen nicht wahrgenommen und gehört, was die JuCo-Studien verdeutlichen. Beteiligung findet nicht ausreichend statt. Entscheidungen werden über die Köpfe von jungen Menschen getroffen. So resümieren die Autor*innen der JuCo-Studien: „Die jungen Menschen zeigten hier eine hohe Sensibilität, während sie gleichzeitig ein Gefühl von Ohnmacht transportierten. Dass ‚über‘ statt ‚mit‘ ihnen geredet wird, die Reduktion auf ihre Rolle als Schüler*innen sowie gleichzeitig die für sie ebenfalls auch relevante Situation im Distanzlernen wurden oftmals als schwierig empfunden.“5
Die Studien zeigen, dass junge Menschen sich nicht wirklich an politischen Prozessen beteiligen können und sie sich daher zurückgesetzt fühlen. So stellt sich die Frage, ob wir der jungen Generation nicht schon einen Platz in unserer Gesellschaft zugewiesen haben – und zwar einen randständigen. Dieser Platz ist einerseits demografisch begründet. Es gibt in Deutschland sehr viel mehr Menschen, die der Generation der Baby-Boomer (Geburtsjahre 1955–1969) angehören als junge Menschen. Bei den Wahlen macht sich das auch (ich schreibe den Artikel VOR der Bundestagswahl) bemerkbar: Es gibt dreimal mehr Wähler*innen in der älteren Generation als in der jungen Generation. Das zeigt sich im Wahlkampf und in vielen Entscheidungen. Ich finde es wichtig, dass alle Menschen in Deutschland eine auskömmliche Rente bekommen.
Diskutiert wird über die Renten der Baby-Boomer
Dies bedeutet allerdings etwas Anderes für die junge Generation als für die jetzigen und baldigen Rentner*innen von heute. Dennoch wird meiner Wahrnehmung nach primär über die Renten der Baby-Boomer diskutiert. Die Folgen der Klimakrise werden mehrheitlich von jungen Menschen zu tragen sein und sich verstärken, je wärmer das Klima wird. Und dennoch: Der politische Wille den Trend zu stoppen, fehlt. Es gibt in Deutschland einfach weniger junge Menschen als ältere Menschen. Es sind also eher die älteren Generationen, die die Wahl entscheiden und damit kommen die Themen, die insbesondere für junge Menschen relevant sind, weniger vor. Daher braucht die junge Generation unsere Solidarität, damit sie deutlicher vorkommt und partizipativ ihren Platz in unserer Gesellschaft einnehmen kann.
Perspektive auf junge Menschen ist unzureichend
Andererseits sollten wir uns mit jungen Menschen solidarisch zeigen, da sie nur auf ihre Rolle als Schüler*innen, Auszubildende oder Studierende reduziert werden, wie die JuCo-Studien zeigen. Damit werden sie lediglich als Leistungsträger*innen bzw. als potentielles Humankapital, also unter wirtschaftlichen und bildungspolitischen Gesichtspunkten gesehen. Andere Teile ihres Seins werden vernachlässigt. Diese Perspektive auf junge Menschen ist unzureichend! Kinder und Jugendliche werden lediglich als zu betreuende oder zu beschulende Objekte gesehen und so verobjektiviert. Der Blick auf sie als Subjekte mit eigenen Rechten tritt zurück. So stellt Michael Klundt scharf fest: „Bitter ist es bereits jetzt zu beobachten, wie seit Jahren die Kinderrechte und die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen von politischer Seite gefeiert wurden, aber seit März 2020 oft selbst die minimalsten kinderrechtlichen Grundlagen, wie der Kindeswohlvorrang, das Diskriminierungsverbot, das Recht auf Entwicklung und Spiel sowie das Recht auf Beteiligung beinahe vollständig abgeräumt wurden, ohne die geringsten Versuche, Kinder, Jugendliche und Jugendverbände auch nur annähernd in Entscheidungsprozesse auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene einzubinden. Selbst die banalsten Formen der Anhörung Jugendlicher, wie sie bei Spiel- und Sportplätzen, Bildungs-, Betreuungs- und anderen Jugendeinrichtungen mithelfen könnten, die Viren-Verbreitung zu bekämpfen und zugleich solidarische Potenziale in der Gesellschaft zu stärken, wurden während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 überwiegend sträflich vernachlässigt.“6
Auch der außerschulische Bereich wird berücksichtigt
Dieser den junge Menschen zugewiesene Platz in der Gesellschaft wird ihnen als Expert*innen ihrer eigenen Lebenswirklichkeit nicht gerecht. Sie sind mehr als nur Humankapital. Diese Perspektive auf sie ist einfach unzureichend.
Interessen von Kindern und Jugendlichen kamen zu kurz
Sie bedingt zudem, dass ihre Interessen gegenüber wirtschaftlichen Interessen untergehen. Viel wurde in Deutschland während der Corona-Pandemie für die Wirtschaft ermöglicht. Die Interessen von Kindern und Jugendlichen kamen hingegen zu kurz. Zwar ist das vom Kabinett verabschiedete Corona-Aufholpaket, das auch non-formale Bildung und die soziale Entwicklung von jungen Menschen im Blick hat, zu begrüßen. Denn, so der Deutsche Bundesjugendring (DBJR): „Die finanzielle Unterstützung ist für Kinder und Jugendliche wichtig, um Ausfälle durch die Corona-Pandemie aufzuholen und wieder stärker als derzeit an der Gesellschaft teilzuhaben. Richtig ist, dass – anders als bisher – endlich junge Menschen nicht nur unter dem Blickwinkel der formalen Bildung betrachtet werden, sondern in gleichem Umfang auch der außerschulische Bereich berücksichtigt wird. Nur so kann den vielschichtigen Bedürfnissen junger Menschen begegnet werden. Gleichwohl stellen wir fest, dass die finanziellen Mittel im Vergleich zu den Summen, die für Unternehmen der Wirtschaft geflossen sind, gering ausfallen. Auch kommt das Programm vergleichsweise spät.“7 Kinder und Jugendliche sind es (wie alle Menschen) wert, dass wir sie unverzweckt und nicht unter kapitalistischer Perspektive wahr- und ernstnehmen. Sie benötigen auch einen Platz in der Gesellschaft, in dem sie nichts leisten müssen, sondern in dem sie Frei- und Gestaltungsräume haben.
Dieser Platz ist auch in der Evangelischen Jugend zu finden. Wir können Orte schaffen, in denen soziale Unterstützung gelebt wird und in denen Kinder und Jugendliche sich ohne Leistungsdruck selbstbestimmt und partizipativ in ihrer Persönlichkeit entfalten können. Dadurch können sie ihren Platz in der Gesellschaft finden. Sie brauchen dafür schon heute unsere Solidarität, damit ihr heutiger Platz in der Gesellschaft kritisch hinterfragt wird. Denn Kinder und Jugendliche haben Rechte, die während der Corona-Krise nicht ausreichend wahrgenommen werden.
Die junge Generation braucht unsere Solidarität
Diese Problematik hat die Tiefenkrise der Corona-Pandemie einmal mehr verdeutlicht. Sie hat den Alltag und die Möglichkeiten von jungen Menschen auf den Kopf gestellt. Sie hat uns zudem vor Augen geführt, welchen Platz junge Menschen gesellschaftlich zugewiesen bekommen. Und dieser scheint kein zentraler Platz zu sein. Daher braucht die junge Generation unsere Solidarität, damit sie ihre Rechte wahrnehmen kann und als Persönlichkeiten auch außerhalb des Schul- und Ausbildungssystems in Erscheinung treten kann. Deshalb möchte ich junge Menschen unterstützen und für sie eintreten. Meine Haltung der Verbundenheit soll sich auf einem Schild niederschlagen, auf dem steht „Solidarität mit jungen Menschen!“
Dr. Kathinka Hertlein ist Theologin, Referentin für Theologie und Jugendsoziologie bei der Arbeitsgemeinschaft der Evangelischen Jugend in Deutschland (aej) und Mitglied der Redaktion „das baugerüst”.
Du hast Interesse am Thema „Solidarität“?
Du findest weitere Artikel dazu in der Ausgabe 4/21 Solidarität.
Titelbild: Symbolbild Solidarität (Adobe Stock)
Literatur
- 1 Horx, Matthias: Die Zukunft nach Corona. Wie eine Krise die Gesellschaft, unser Denken und unser Handeln verändert. Berlin 2020, 15.
- 2https://www.shell.de/ueber-uns/shell-jugendstudie/_jcr_content/par/toptasks.stream/1570810209742/9ff5b72cc4a915b9a6e7a7a7b6fdc653cebd4576/shell-youth-study-2019-flyer-de.pdf, 5
- 3 Schnetzer, Simon; Hurrelmann, Klaus; Leibovici-Mühlberger, Martina: Jugend und Corona in Deutschland und Österreich: Junge Menschen im Lockdown, in: Dohmen, Dieter; Hurrelmann Klaus (Hrsg.): Generation Corona? Wie Jugendliche durch die Pandemie benachteiligt werden, Weinheim und Basel 2021, 265-267-
- 4 A. a. O., 267.
- 5 Lips, Anna; Rusack, Tanja; Schröer, Wolfgang; Thomas, Severine: Kein Recht auf Jugend in Zeiten der Pandemie? in: Lutz, Ronald; Steinhaußen, Jan; Kniffki, Johannes (Hrsg.): Corona, Gesellschaft und Soziale Arbeit. Neue Perspektiven und Pfade, Weinheim und Basel 2021,120-131, 127.
- 6 Klundt, Michael: Kinder, Kinderrechte und Kinderschutz im Corona-Kapitalismus, in: Lutz, Ronald; Steinhaußen, Jan; Kniffki, Johannes (Hrsg.): Corona, Gesellschaft und Soziale Arbeit. Neue Perspektiven und Pfade, Weinheim und Basel 2021, 89-104, 96f.
- 7 Vgl. https://www.dbjr.de/artikel/corona-aufholpaket-bei-der-umsetzung-verbaende-einbeziehen
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