Freitag Abend: Zeit zum Aufwachen

Wie aus einer alten Strickjacke, reichlich Rührei und kollektivem Übermut die Wohnzimmerkirche wurde
Lesezeit: 10 Minuten
Ausgabe 4/25 Kirche
Matthias Lemme ist Pastor in der Christianskirche in Hamburg, scheibt Liedtexte (monatslied.de) und gemeinsam mit der Autorin Susanne Niemeyer, die ebenfalls zum Team der Wohnzimmerkirche gehört, einen Advents- und Sonntagskalender (Stille Post & Luft nach oben, edition chrismon). Zudem arbeitet er als Supervisor und Coach.
Manchmal erbt man was. Und kann damit mehr oder weniger anfangen. Bei mir war es die grüne Strickjacke meines Westonkels und der hüftsteife Gottesdienst unserer Vorfahren. Die Strickjacke habe ich alleine geerbt, den Gottesdienst kollektiv, was die Sache nicht einfacher macht.
Die Jacke ist eigentlich ganz schön, man kommt mit ihr durch jeden Winter. Die hellbraunen Holzknöpfe glänzen weise vor sich hin, Traditionalisten würden ihr eine Ode auf Qualität und Langlebigkeit an den Kragen schwurbeln. Wären die Ärmel nicht zu kurz und der Rest zu lang, würde ich die alte Jacke sogar tragen, zumindest zuhause.
Der Gottesdienst kam früh in meiner Kindheit über mich. Anfang der 1980er Jahre, Halle/Saale, heutiges Sachsen-Anhalt. Wir gingen fast jeden Sonntag in ein modernes Gemeindezentrum, es gehörte dazu wie der Geigenunterricht am Dienstag und Quarkklöße am Samstag. Später machten wir dort Musik mit ein paar Leuten, ein rühriger Selfmade-Kantor, der nicht Orgel spielen konnte, hatte Angst vor nichts und niemandem, wir blockflöteten und geigten uns mit Verve durch Choral-Vorspiele. Als Jugendlicher überkam mich in der Kirche die Langeweile; die Predigten, auf die ich nun hörte, fand ich zahnlos, die Tristesse beim Abendmahl deprimierte mich. Ich erlebte auch an anderen Orten Gottesdienste, die rührten bei mir aber noch weniger an. Erst später wurde mir klar, dass meine kleine Stadtrandgemeinde als aufgeschlossen galt, aufs Ganze gesehen sogar als liberal – und überhaupt nicht traditionell war. Keine Talare, auch moderne Lieder, eine eher hemdsärmelige Liturgie. Aber es hilft ja nichts: Ich verstand nicht, warum die Menschen in der Kirche so warmherzig waren, ihre Sprache und Gesten in den Gottesdiensten aber weltfremd und verhaltensauffällig. Kaum war das letzte Amen gesungen, wurden alle wieder normal und es gab Kekse und manchmal Nudelsalat.
In der Zwecklosigkeit tummelt sich die Seele
Aber: Dass ich bis heute an Gottesdiensten ihre Zwecklosigkeit schätze, die ein Tummelplatz für die Seele ist, liegt genau an diesen Kindheitserfahrungen. Im Nachhinein habe ich begriffen, dass ich außer in klassischen Konzerten nirgendwo so gut nachdenken konnte wie in der Kirche. Und kann. Abschweifen, wegfliegen, träumen.
1989 wehte ein anderer Wind, wir zogen mit Kerzen durch die Straßen. Die politischen Umstände veränderten sich in einem Affentempo, aber unsere Alltagswelt blieb an vielen Stellen die gleiche. In der Schule fehlten ein paar Lehrer, die gen Westen verschwanden, wir konnten unsere Tanten in Hessen besuchen und uns was Schönes kaufen (unschlagbar: Walkman und Rittersport – aber vor allem überflüssigen Kram in sinnlos großer Auswahl). Das größere Abenteuer war für uns die Pubertät. In der Schule und in der Kirche nahm ich Veränderungen nur in homöopathischen Dosen wahr, wahrscheinlich, weil die Kontinuität in meiner Welt so stabil war. Irgendwann war die Schule vorbei, ich leistete Zivildienst in einem kirchlichen Kindergarten, spielte in Bands und hatte Liebeskummer. Ich studierte dies und jenes – und dann plötzlich Theologie. Irgendwas ging da wohl nicht aus der Wäsche, vielleicht suchte ich auch vertrautes Terrain. Später wurde ich Journalist, zog nach Hamburg – und erlebte plötzlich Gottesdienste, die anders waren. Da lächelten Menschen beim Abendmahl. Die Kirche war ein heller Raum. Die Sprache in und nach der Kirche war erstaunlich ähnlich. Und alte Choräle hatten Power, weil hundert Menschen sie mit Freude sangen.
Ich wurde Pastor, erst in Sachsen-Anhalt, dann am Stadtrand in Hamburg, schließlich mitten in Hamburg-Altona. In dieser Kirche, in der ich Gottesdienste so anders erlebt hatte. Dort wurde die Liturgie mit Liebe und Samthandschuhen geformt. Was singen wir? Wie beten wir? Wann stehen wir auf? Und warum tun wir das alles eigentlich?
Das Kirchengebäude ist von barocker Heiterkeit, hell, shabby, mit tieffliegenden Engeln und einem Sternenhimmel. Die Menschen, die sonntags in die Kirche kommen, sind keine Traditionalisten, aber schätzen wiederkehrende Formen. Und eine Spiritualität, die nicht Recht haben muss, aber das Unsagbare feiert. Die Musik, eher vom Flügel als von der Orgel, verbindet urmenschliche Erfahrungen von damals und heute, verwebt Gebete und Stille und Segen. All das führt dazu, dass Menschen – im besten Fall – fröhlicher aus dem Gottesdienst herausgehen, als sie hereingegangen sind. Empowert. Das gilt auch für mich, egal ob als Gast oder als Pastor.
Aber wir Sonntagsmenschen kamen in die Jahre. Selbst bei mir, der deutlich jünger als die meisten ist, setzte eine innerliche Patina an. Die Köpfe wurden grauer (meiner wurde kahler), wir wurden weniger, weil jüngere Menschen am Sonntagmorgen nicht das suchten, was wir dort fanden.
Wir feiern, wie wir glauben – aber wer glaubt denn noch so?
Ich kam ins Grübeln, wenn ich Gottesdienste besuchte. Was machen wir hier eigentlich? Wir feiern Gott und die Welt nach einer uralten Form, selbst, wenn wir diese an manchen Stellen geliftet haben. Verständlicher gemacht und fühlbarer. Wir stellen unsere Fragen und Gefühle in einen größeren Kontext. Aber diese Form, diese Dramaturgie aus Worten und Musik, aus Stille und Gesang, ist störanfällig. Sie kann zu einer wunderbaren Performance werden, in die ich eintauchen oder von der ich auf Gedankenreisen gehen kann. Aber sie ist abhängig von Konzentration, von Genauigkeit im Ablauf, von Überblendungen zwischen Musik und Sprache, von der Liebe zum Detail und eingeübten Handlungen. Und von der Übereinkunft, dass vorne gesprochen wird und hinten zugehört. Dass vorne gemacht und hinten mitgemacht wird. Wie früher in der Schule. Die Kirche als Klassenzimmer. Wie früher bei Hofe. Die Kirche als Thronsaal. Eine spricht, die anderen nicken. Die katego-
riale Andersartigkeit Gottes zeigt sich – wohl oder übel – auch in der liturgischen Zeremonienmeisterei. Es geht um Autorität. Um Gottesbilder. Eine spricht, die anderen nicken? Oder bleiben lieber zuhause. Wie wir feiern, so glauben wir. Aber glauben wir noch so? Wer glaubt denn noch so?
Ich musste an meine grüne Strickjacke denken, dieses schöne, aber nicht alltagstaugliche Erbstück. Was müsste passieren, dass ich diese Jacke tragen würde? So richtig gerne?

(Foto: Thomas Hirsch-Hüffell)
So ging es los, zumindest für mich. Und dann für uns. Fünf Menschen, deren Wege sich in dieser Zeit kreuzten. Wir hatten ähnliche Erfahrungen gemacht und verabredeten uns für die folgenden Monate zu Kaffee, Croissant und Käse. Wir fragten einander: Wie müsste ein Gottesdienst sein, damit ich da wirklich gerne hingehe? Und nicht nur ich, auch meine Freundinnen und Nachbarn? Zu welchem Gottesdienst würde ich sie reinen Herzens einladen? Ohne vorher eine Gebrauchsanweisung auszuteilen und ohne diese Restscham, dass da eventuell etwas peinlich sein könnte? Wir aßen Rührei und Franzbrötchen und staunten, wie fest uns die Tradition im Griff hatte. Auch unser Denken. Manches verteidigten wir, ohne darüber nachzudenken – aber wir waren ja genug, um uns die kirchliche Nibelungentreue aufs Brötchen schmieren zu können. Wir diskutierten mit vollem Mund und irgendwann war klar: Jenseits von Zielgruppendiskussionen und institutioneller Problem-Trance ging es darum, was uns selbst in Gottesdiensten freuen, guttun und trösten würde. Und das war: Pop, eine aufrichtige Sprache, pulsierende Gebete, echte Partizipation und eine Stimmung zwischen Kirche, Club und Kneipe.
Proben, Käse aufspießen, feedbacken
Im Oktober 2019 feierten wir die erste Wohnzimmerkirche. Es kamen 35 Gäste, die meisten aus unserem Freund*innenkreis. Wir hatten das Gefühl, da ist was zu holen, vor allem für uns selbst. Bei der vierten Ausgabe ein paar Monate später kamen 120. Dann kam die Pandemie, seit 2022 feiern wir sieben Mal im Jahr am Freitagabend diesen Abendgottesdienst.
Wir lachen und lernen und lassen unsere Phantasie von der Leine. Im Grunde sind die Abende heute noch so wie damals, als wir vor sechs Jahren angefangen haben.
Am Freitagmorgen schieben wir die Bänke in der Kirche zusammen, tragen Sessel und Sofas herein, hängen Lichterketten auf und füllen die Getränketresen. Später stecken wir Käsespieße zusammen, holen Laugenkonfekt vom Bäcker und frisches Obst vom Markt. Die Musiker bauen ihre Anlage auf und gehen die Lieder durch, dann proben wir alles von vorne bis hinten einmal durch. Wir probieren aus, was wir uns in den beiden Vorbereitungstreffen und zuhause ausgedacht haben. Wir setzen es wie ein Puzzle zusammen, schauen, was funktioniert und was nicht. Wir ändern Dinge und schreiben manches neu, wir geben einander Feedback und diskutieren, was luschig wirkt, banal oder überinszeniert. Und ob unser Thema überhaupt erkennbar ist (jede Wohnzimmerkirche hat ein Thema wie „Liebe machen“, „Liegen lassen“ oder „Zirkus“) und rote Fäden nicht zerreißen.

Sieben Mal im Jahr am Freitagabend hängt das Team Lichterketten in der Christianskirche auf und lädt zur Wohnzimmerkirche ein. (Foto: Thomas Hirsch-Hüffell)
Irgendwann ziehen wir uns zurück, essen in Ruhe miteinander, streifen ein frisches T-Shirt über, singen uns ein. Kurz vor acht gehen wir zurück in die Kirche, zünden die Kerzen auf den Couchtischen an, begrüßen die Menschen, die Band spielt Pop-Songs zum Warmwerden und Ankommen – und um 20.30 Uhr geht es dann richtig los.
Kaugummiautomat und Telefonnummern
Wir fragen, wer die weiteste Anfahrt hatte, wer zum ersten Mal da ist, stellen uns vor. Wir spielen etwas miteinander; oft lebt das von Slapstick und Improvisation (man kann auch mit 150 Menschen Schere-Stein-Papier spielen). Wir singen Lieder von Clueso, Queen, den Sportfreunden Stiller oder Danger Dan. Wenn wir beten, dann auf einen Klangteppich von Bass, Loops & Gitarre. Wir erzählen, inszenieren oder paraphrasieren eine Geschichte, oft aus der Bibel, aber auch im schönen Panama oder bei Alice im Wunderland waren wir schon. Irgendwann reden wir über uns selbst, über unsere Ups & Downs, und da wir unterschiedliche Berufe haben und zwischen Mitte 20 und Anfang 50 sind, ist das vielschichtig. Und dann gibt es unseren Fragomaten, ein umgebauter Kaugummiautomat, aus denen die Gäste Fragen ziehen und darüber in ihren Sitzgruppen sprechen. Später essen wir zusammen (kein Abendmahl, aber manchmal wie Abendmahl), sammeln unsere Gedanken und Gebete, als Segen singen wir Zeilen wie „Lights will guide you home“ (Coldplay, Fix you) – ein Gänsehautmoment.

Mit Hilfe des Fragomaten kommen die Gäste in Kleingruppen miteinander ins Gespräch. (Foto: Thomas Hirsch-Hüffell)
Manche gehen danach nach Hause oder zum Feiern auf den Kiez, andere bleiben noch und tauschen Telefonnummern aus, irgendwann räumen wir auf und gehen kurz nach Mitternacht zu Evi in ihre Eckkneipe. Zum sackenlassen und runterkommen.
Am nächsten Tag schreiben wir uns in unserer WhatsApp-Gruppe. Und wenn es richtig gut lief, schreibt eine: Boah, ich bin immer noch im Flow. Das tat mit so gut. Und so viele glückliche Menschen.
Nach sechs Jahren Wohnzimmerkirche kann ich sagen: Diese Form von Gottesdienst passt. Zuallererst für uns, aber vielleicht gerade deswegen ja auch für viele andere.
Ich freue mich darüber, dass es Wohnzimmerkirchen mittlerweile an vielen Orten im deutschsprachigen Raum gibt. Auf dem Land oder in der Stadt, kleiner oder größer, so wie wir sie feiern oder ganz anders. Was auffällt: Keine der Wohnzimmerkirchen findet am Sonntagmorgen statt. Sicherlich kein Zufall.
Die Wohnzimmerkirche passt. Im Gegensatz zu meiner alten grünen Strickjacke. Die passt immer noch nicht. Ich müsste sie passend machen. Die Knöpfe abtrennen, die Maschen lösen, die ganze Jacke wieder aufribbeln. Und mit der alten Wolle, das ist ja beste Qualität, etwas Neues stricken. Bei manchen Erbstücken muss man Hand anlegen.
Du hast Interesse am Thema „Kirche“?
Du findest weitere Artikel dazu in der Ausgabe 4/25 Kirche.

Rückmeldungen