Das GaFöG kommt

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Ausgabe 2/23 Jugendarbeit und Schule
Erika Georg-Monney ist Bildungsreferentin im Amt für Jugendarbeit der Evangelischen Kirche im Rheinland. Dr. Kathinka Hertlein ist Referentin für Theologie und Jugendsoziologie der aej und Mitglied in der Redaktion des baugerüsts. Matthias Rumm ist Landesjugendpfarrer in Württemberg und Referent für Jugendarbeit und Konfirmandenarbeit im Evangelischen Oberkirchenrat sowie Mitglied in der Redaktion des baugerüsts.
Die Arbeit mit Kindern in der Evangelischen Jugend
und der Rechtsanspruch auf Ganztagsförderung
Das Ganztagsförderungsgesetz (GaFöG) wurde vom Deutschen Bundestag und Bundesrat verabschiedet. Mit dem GaFöG sollen nach dem Willen der Bundesregierung ganztägige Bildungs- und Betreuungsangebote für Grundschulkinder ausgebaut werden. Dabei spielen gesellschaftspolitische Ziele, wie die ganzheitliche und inklusive Förderung der Entwicklung und Erziehung von Kindern zu einer eigenverantwortlichen Persönlichkeit, die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und die gleichberechtigte Teilhabe aller Geschlechter am Erwerbsleben eine Rolle.
Ab dem 01. August 2026 wird ein Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung für alle Kinder im Grundschulalter schrittweise eingeführt. Das GaFöG kommt. Zunächst werden Kinder der ersten Klassenstufe ganztägig gefördert, in den Folgejahren wird das je um eine Klassenstufe ausgebaut. Mitsamt Unterrichtszeiten gilt eine Ganztagsbetreuung von acht Stunden an allen fünf Werktagen. Auch in den Ferien soll der Rechtsanspruch gelten und die Länder können eine Schließzeit von maximal vier Wochen regeln.(1)
Das heißt, die Anzahl der ganztägig betreuten Kinder wird weiter ansteigen und die Ganztagsbildung wird bedeutsamer werden. Wie die Kinder- und Jugendhilfe auch, so ist der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung im Achten Sozialhilfebuch geregelt. Zum 01. August 2026 wird sich etwas verändern: Neue Dynamiken und Herausforderungen, wie auch Chancen für das Schulsystem, die Kinder- und Jugendhilfe, die Träger non-formaler Bildung und natürlich die Evangelische Jugend.
In der Arbeit mit Kindern in der Evangelischen Jugend konzentrieren wir uns auf den Nachmittag mit Gruppenangeboten, auf die Ferien mit Freizeiten und Ferienangeboten vor Ort und auf die Wochenenden mit Projekten. Dabei ist es längst gute Praxis in vielfältigen Kooperationen als Jugendverband am Ganztag beteiligt zu sein. Mit der Einführung des Rechtsanspruchs wird sich etwas ändern. Bundesweit ist die Ganztagsförderung dann verbreitet und braucht die Kooperation mit den Trägern non-formaler Bildung.
Was bedeutet das für unsere Arbeit in der Evangelischen Jugend?
Als Evangelische Jugend haben wir außerschulische Expertise in der Arbeit mit Kindern. Wie und warum sollen wir sie nun in den Ganztag einbringen? Jugendverband und Schulte ticken doch anders! Das muss beachtet werden. Als Jugendverband haben wir den Anspruch, Kinder und Jugendliche (wie alle Menschen) als Individuen zu sehen und ihre Bedürfnisse in den Mittelpunkt zu stellen. So gehört es zu den Grundprinzipien und Merkmalen von Jugendverbandsarbeit, dass Freiwilligkeit, Selbstorganisation und Selbstwirksamkeit, Mitbestimmung, ehrenamtliches Engagement sowie Lebensweltbezug und Werteorientierung gelebt werden. In §12 SGB XIII ist von Jugendarbeit als außerschulische Jugendbildung die Rede, die von Verbänden wie der evangelischen Jugend angeboten wird. Ziel ist es, junge Menschen in ihrer Entwicklung zu fördern, ausgehend von ihren Interessen, von ihnen mitbestimmte und mitverantwortete Angebote zu gestalten, sie zur Selbstbestimmung zu befähigen und anzuregen zu gesellschaftlicher Mitverantwortung und sozialem Engagement. Darin fördert der Staat die Jugendverbände, damit die Jugendarbeit von jungen Menschen selbst organisiert, gemeinschaftlich gestaltet und mitverantwortet werden kann. Demgegenüber steht das System Schule, dessen Merkmale wie Schulpflicht, Bildungspläne, Bildungsstandards, Wissensvermittlung, Kompetenzerwerb, Leistungsmessung und Förderung der Entwicklung den Merkmalen des Systems Jugendarbeit teilweise konträr gegenüberstehen. Schule und Jugendverband sind anders.
Wie und warum sollten wir uns nun im Ganztag engagieren?
Festzustellen ist, dass die derzeitige Ausgestaltung von ganztägiger Bildung oft der Logik der Schulen folgt und zu wenig den Rechten der Kinder. Das heißt im Blick auf die umfängliche Persönlichkeitsentwicklung, im Blick auf das Recht auf Beteiligung und das Recht auf Erholung und freie selbstbestimmte Zeit zeigen sich Defizite.
Für die Kooperation und die Ab-sicherung von ganztägigen Bildungs- und Betreuungsangeboten von Seiten der Arbeit mit Kindern in der Evangelischen Jugend stellt sich deshalb die Frage, ob bereits bei der Einführung des Rechtsanspruchs eine an den Rechten und Bedarfen der Kinder ausgestaltete Umsetzung mitgedacht wird. Kinder sind Expert*innen in eigener Sache und die Bedeutung ihrer Beteiligung für eine bedürfnis- und bedarfsgerechte Ausgestaltung einer kindgerechten Ganztagsbildung ist fachlich unumstritten. Der Blick auf die Bedarfe der Kinder müsste bei der nun anstehenden Ausgestaltung von Ganztagsbildung Priorität haben. Insbesondere sind Freiräume einzuräumen, in denen Kinder selbstbestimmt und mit anderen Kindern ihre Interessen entwickeln können. Es braucht Zeiten ohne konkrete Lernintentionen, Platz für Bewegung, Zeit für Spiel und Erholung und selbstgestaltbare Räume, damit die soziale und emotionale Entwicklung von Kindern nicht zu kurz kommt.
Nur so kann Ganztagsbildung für Kinder eine Chance zu mehr Bildungs- und Teilhabegerechtigkeit sein und ein ganzheitlicher Lebens-, Bildungs- und Bewegungsort.(2)
Das Ziel einer kindgerechten Ganztagsbildung ist aus Sicht der Arbeit mit Kindern in der Evangelischen Jugend zu erreichen durch:
- eine umfassende Berücksichtigung der Rechte und Bedarfe der Kinder,
- die konsequente konzeptionelle Einbindung der Lebenswelt der Kinder, ihrer je persönlichen Stärken und Ressourcen,
- eine Beziehungsarbeit die von Wertschätzung und Selbstbestimmungsrechten geprägt ist,
- die Berücksichtigung der Prinzipien der Jugendarbeit (Subjektorientierung, Partizipation, Freiwilligkeit u.a.) und Selbstwirksamkeitserfahrungen ohne Leistungsbewertung,
- die Verortung im Gemeinwesen und die Kooperation mit vielen Partnern im Sozialraum,
- unterstützende Rahmenbedingungen (bedarfsgerechte Finanzen, fachlich qualifiziertes Personal, kindgerechte Räume),
- die Einbeziehung qualifizierter Ehrenamtlicher aus Jugendarbeit, Kultur, Sport, Musik,
- Qualitätsstandards und Konzeptionen, die von Schule und
- Jugendhilfe gemeinsam erarbeitet werden,
- eine qualitativ gute Mittagsverpflegung,
- die vertrauensvolle Einbeziehung von Eltern in verbindlichen Strukturen, um gelingende Erziehungs- und Bildungspartnerschaften sicher zu stellen,
- die gemeinsame Fortbildung aller Akteure in der Ganztags-bildung,
- die Sicherstellung der Erreichbarkeit aller Angebote, auch die der Jugendverbände,
- die regelmäßige Evaluation unter Beteiligung von Kindern.
Schulsystem und Jugendverbands-arbeit sind unterschiedliche Systeme mit unterschiedlichen Merkmalen und Herangehensweisen. Nun ist die Frage, was es für den Jugendverband bedeutet, wenn er sich auf das System Schule einlässt. Die Evangelische Jugend hat eine doppelte Identität.(3) Sie ist einerseits kirchliche Jugendarbeit, hat einen geistlichen Auftrag und eine Funktion für Kirche. Ebenso ist sie Jugendverband, staatlich gefördert und hat einen Auftrag der Gesellschaft auszuführen. Das führt zu verschiedenen Spannungsfeldern innerhalb der Evangelischen Jugend, macht aber auch das besondere Profil des Jugendverbands aus.
Nicht nur im Religionsunterricht mischen beide große Kirchen an der Schule mit. Glaube und christliche Religion äußern sich in klassischen Berührungspunkten in Schulgottesdiensten, Schülerbibelkreisen, Schulseelsorge (Schulpastoral), Mentor*innenprogrammen, einzelnen Kooperationen vor Ort und auch durch Praktika im kirchlichen Kontext. Kirche war und ist als Partnerin von Schule gefragt und wird dies auch bleiben. Häufig wird die Unterscheidung von formaler (Schule) und non-formaler Bildung (Jugendarbeit) aufgemacht. Aber hat sich dieses abgrenzende Bildungsverständnis nicht auch zugunsten eines ganzheitlichen Bildungsverständnisses weiterentwickelt?
Allerdings geht es dabei nicht darum die Unterschiede und wichtigen eigenen Prinzipien einzuebnen. Beide Systeme können voneinander lernen und tragen jeweils für sich zu einer guten Bildung junger Menschen bei. Kirche stellt sich der Mitverantwortung für die Bildung junger Menschen. Bildung gehört schon immer zur DNA von Kirche. Sie setzt sich für eine lebensförderliche Schule ein, in der sich Kinder und Jugendliche entfalten können, ihre Talente gefördert werden, gegenseitige Annahme, Achtung und Respekt gefördert wird. Nicht nur aus historischen und pragmatischen Gründen wäre eine Zusammenarbeit von Schule und Kirchen geboten, sondern auch weil der Staat den Kirchen eine Mitverantwortung für die Bildung einräumt. Die Kirchen kommen, gewollt durch den Staat, mit ihrem Werteprofil an die Schule. Dies geschieht im Wissen um und im Respekt vor religiöser Pluralität. Schule ist kein Missionsort. Wenn sich Kirche oder christliche Jugendarbeit in Schule engagiert, geht es nicht darum, Mitglieder zu gewinnen. Es geht Kirche und christlicher Jugendarbeit um die Kinder und Jugendlichen, deren Bedürfnisse, deren Leben und ihre religiösen Fragen. Kirchliche Jugendarbeit macht sich auf den Weg zu den jungen Menschen. Daher ist sie unumgänglich auch im Ganztag zu finden.
Was aber bedeutet das für den Jugendverband?
Jugendarbeit stellt ein eigenes System mit eigener innerer Logik dar und ist nicht Teil des Systems Schule. Jugendarbeit kann und will auch nicht vereinnahmt werden und wird immer darauf bedacht sein, ihre ureigenen Grundprinzipien zu erhalten. Das ist wertvoll und muss auch als genuine Wesensart von Jugendarbeit erhalten bleiben. Jugendarbeit ist nicht Schule und Schule ist nicht Jugendarbeit! Es darf nicht so enden, dass „alles, was Schule anfasst, zur Schule wird“ – wie es Ulrich Deinet ausdrückt.
Kann Jugendverbandarbeit mit ihrem eigenen Proprium, Kennzeichen und Prinzipien am Ort Schule erhalten bleiben?
Jugendverbandsarbeit tut gut daran, sich mit dem System Schule und dessen eigener Organisationslogik auseinanderzusetzen, ohne assimiliert zu werden. Gerade als Evangelische Jugend haben wir etwas in den Ganztag einzubringen. Wir bringen die Bedarfe und Rechte von Kindern ein. Jugendarbeit kann für das System Schule bereichernd sein und umgekehrt. Denn mit der Jugendarbeit kommt ein anderes System in das System Schule, beziehungsweise berühren sich beide Systeme idealerweise in Kooperation auf Augenhöhe. Diese Kooperation muss so ausgehandelt werden, dass Ganztagsbildung für Kinder eine Chance zu mehr Bildungs- und Teilhabegerechtigkeit führt und ein ganzheitlicher Lebens-, Bildungs- und Bewegungsort entsteht.
- Wie können der kirchliche und gesellschaftliche Auftrag in der Ganztagsförderung aussehen?
- Kann Jugendverbandsarbeit auf Augenhöhe mit dem System Schule kooperieren?
- Welche Klärungen bedarf es lokal und regional, um gut anfangen zu können?
Dies in gute Kooperationen einzutragen, wird die Herausforderung der evangelischen Arbeit mit Kindern werden.
Du hast Interesse am Thema „Jugendarbeit und Schule“?
Du findest weitere Artikel dazu in der Ausgabe 2/23 Jugendarbeit und Schule.
Titelbild: Kind mit Schulranzen am ersten Schultag. (Foto: Arnica Mühlendyck)
Literatur
- (1) Vgl. https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/gesetze/gesetz-rechtsanspruch-ganztagsbetreuung-grundschulen-178966, aufgerufen am 10.03.2023.
- (2) Vgl. https://www.agj.de/fileadmin/files/positionen/2020/AGJ-Zwischenruf_guter-Ganztag.pdf, aufgerufen am 10.03.2023.
- (3) Vgl. Corsa, Mike; Freitag Michael: #immerandersweiter. Bericht über die Lage der jungen Generation und die evangelische Kinder- und Jugendarbeit 2018, 97-105.
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