„Nur langweiligen Leuten ist langweilig“
Im Gespräch mit Michaela Krützen

„Nur langweiligen Leuten ist langweilig“

„Nur langweiligen Leuten ist langweilig“

Langeweile in den Medien und mit den Medien


Lesezeit: 11 Minuten

Ausgabe 3/25 Langeweile

Ein Gespräch mit Michaela Krützen, Professorin für Medienwissenschaften an der Hochschule für Fernsehen und Film in München. Das Interview führte Arnica Mühlendyck (verantwortliche Redakteurin beim „baugerüst“ seit 2022) im Februar 2025 via Zoom-Call.

baugerüst: Wann war Ihnen das letzte Mal so richtig langweilig? 

Krützen: Ich bin kein Typ für Langeweile. Das heißt nicht, dass ich immer etwas tue. Ich kann auch gut nichts tun. Der einzige Ort, wo ich wirklich Langeweile-gefährdet bin, ist der Spielplatz. Ich habe eine siebenjährige Tochter. Ich weiß nicht, wie die anderen Eltern das machen, aber auf dem Spielplatz zu sitzen, das ist für mich nach der ersten halben Stunde zäh wie Kaugummi. Das führt mich an den Rand des Wahnsinns. Ich weiß, das kommt bei anderen Eltern schlecht an, aber so ist es.

baugerüst: Dafür habe ich großes Verständnis. Als meine Kinder noch kleiner waren, ging es mir ähnlich. Da schaut man auf die Uhr und merkt, es sind erst fünf Minuten vorbei. 

Krützen: Ich spiele dann auch nicht mit dem Handy rum, ich nehme mir ein Buch mit, lese aber auch nicht wirklich, da ich ja mit dem Augenwinkel trotzdem immer schaue, was mein Kind macht. 

baugerüst: Was machen Sie dann, wenn die Langeweile eintritt?

Krützen: Ich versuche, einen meditativen Mechanismus zu finden und entspannt im Hier und Jetzt zu sein. Meistens funktioniert das, aber ansonsten langweile ich mich einfach und halte es aus. 

baugerüst: Ist das so, dass man Langeweile einfach aushalten muss?

Krützen: Auf jeden Fall. Wenn man sich immer in Aktivität flüchtet, dann ist das ein echter Verlust. In der Pädagogik ist mittlerweile bekannt, dass ständige Angebote nicht gut sind für Kinder. Kinder sagen schnell: „Mir ist langweilig“. Wenn wir ihnen immer sofort Angebote machen, denken sie sich nichts mehr selbst aus. Eine wirklich schreckliche Serienfigur, Betty Draper aus „Mad Men“, sagt zu ihrem Kind: „Nur langweiligen Leuten ist langweilig“. Ein echter Satz der 50er Jahre, aber ich habe ihn auch schon ausgesprochen. Meine Tochter kommt nicht mehr zu mir und klagt über Langweile, da reicht ein Blick von mir und sie sagt: „Schon gut, ich gehe ja schon.“ Langeweile muss ich aushalten oder sie in eine konkrete Situation überführen. Ich muss für die Arbeit zum Beispiel viele Bücher lesen, die von einer derartigen Langeweile geprägt sind, aber das gehört eben zum Beruf, das muss ich dann aushalten. 

baugerüst: Schläft man dabei nicht ein?

Krützen: Nein, ich kann mich dann immer mit irgend etwas motivieren. Bei langweiligen Filmen ist das schon schwieriger. Ich schalte dann die Geschwindigkeit auf 1,6.

baugerüst: Ich vermute, langweilige Filme werden durch die schnellere Geschwindigkeit auch nicht besser?

Krützen: Das stimmt, aber dann geht es einfach schneller und der Text ist immer noch zu verstehen. Ich habe beruflich immer wieder Filme, die ich quasi „weggucken“ muss. Viele junge Menschen schauen auch Serien oder hören Podcasts in erhöhter Geschwindigkeit. Diese Funktion gibt es nicht umsonst. Sprachnachrichten sind für mich übrigens der Gipfel der Langeweile, die stelle ich auch oft auf schnell.

baugerüst: Ich habe mir ihr aktuelles Buch ausgeliehen und das Kapitel über Langeweile gelesen. Sie definieren Langeweile am Buch „Der große Gatsby“.

Krützen: Ja, das ist wirklich ein Klassiker der Weltliteratur, die Story wird auf 200 Seiten mit atemberaubender Geschwindigkeit entwickelt, auch nach 100 Jahren noch ein sehr gut lesbares Buch. 

baugerüst: Besonders interessant fand ich, dass Sie anhand der Geschichte drei völlig unterschiedliche Arten von Langeweile aufgliedern. 

Krützen: Ganz allein bin ich nicht darauf gekommen, definiert hat schon Martin Heidegger diese drei Arten der Langeweile. Aber „Der große Gatsby“ bietet tolle Beispiele. Da ist zunächst die Langeweile, die man empfindet, wenn man auf etwas warten muss, zum Beispiel auf den Zug. Da könnte man etwas Sinnvolles tun, manche schaffen das auch, aber meistens gehen wir einfach rastlos auf und ab, schauen immer wieder, wann der Zug kommt und so weiter. Diese erste Form der Langeweile erleben wir auch im Wartezimmer. Die zweite Form der Langeweile entsteht, wenn wir von etwas gelangweilt werden. Und die dritte Form – das ist eigentlich meine liebste Form der Langeweile – ist die Langeweile, die erst im Nachhinein deutlich wird. Wenn ich zum Beispiel von einem schönen Abend zurückkomme und erst danach feststelle, dass es eigentlich doch langweilig war. Und wieso? Weil man selbst langweilig war. Das ist verblüffend, dass wir uns selbst dann langweilen können, wenn wir einen geselligen Abend haben.

baugerüst: Woran merke ich das denn hinterher?  

Krützen: Heidegger beschreibt das ganz schön. Ich komme nach Hause und frage mich: Was habe ich eigentlich gemacht heute Abend? Zu keinem Zeitpunkt im Verlauf des Abends habe ich gedacht: Das ist aber ein langweiliger Gesprächspartner. Doch in der Summe ist eine Leere geblieben. Heute könnten wir noch eine zusätzliche Form der Langeweile hinzufügen, die würde Heidegger auch gefallen, die Art der Langweile, bei der wir sinnlos Zeit zerstören, zum Beispiel, indem wir zappen oder ziellos Social Media nutzen. 

baugerüst: Aber in diesen Situationen ist mir ja nicht langweilig.  

Krützen: Das ist genau der Kniff. Wenn ich zum Beispiel einen Abend auf YouTube verbringe, von einem Clip zum nächsten springe, dann ist das währenddessen kurzweilig, die Zeit vergeht schnell. Aber hinterher weiß ich nicht mehr, was ich erlebt habe. Drei Abende später kann ich das schon niemandem mehr erzählen. Dieses Zeitphänomen beschreibt Hartmut Rosa in seinem Buch „Beschleunigung“. Die Zeit, die wir mit Social Media verbringen, geht schnell vorbei, ist hinterher aber einfach weg, das genaue Gegenteil vom Warten auf den Zug. Die Langweile erleben wir dabei erst hinterher. Darum sind viele Menschen auch im Grunde unglücklich mit ihrem eigenen Social Media Verhalten. „Ich hatte einen tollen Abend, vier Stunden TikTok“, das sagt doch niemand.  

baugerüst: Da geht man ja auch nicht entspannt raus.   

Krützen: Genau, weil das Gefühl an mir nagt, die Zeit verschwendet und mich letztlich eben doch gelangweilt zu haben. So töten wir Zeit. 

baugerüst: Da sind wir dann beim Thema Zeitverschwendung, um das sich ihr ganzes Buch dreht. Eine Form der Langeweile haben Sie vorhin nur sehr kurz aufgezeigt. Sie nennen diese Form im Buch „Es ist einem langweilig“ und beschreiben es als größeres Gefühl. Das klingt für mich schon ein bisschen nach Depression. 

Krützen: Das kann zu einer Depression werden. Wir müssen lernen, aus der Langeweile, die Teil unseres Lebens ist, wieder rauszukommen und uns selbst genug zu sein in bestimmten Momenten. Wenn ich erfüllt bin, von dem was ich tue, dann ist mir nicht langweilig. Diese Erfüllung zu finden in einem Moment, in dem nichts geschieht, das ist erstaunlich. Das ist dann das Gegenteil von „Es ist einem langweilig“, das Gegenteil davon, in die Zerstreuung zu gehen, das Gegenteil von TikTok. Viele Menschen haben danach eine große Sehnsucht. Die gleichen Menschen, die in der U-Bahn sofort das Handy zücken, suchen ihren Ausgleich in Ruhe-Retreats. Diese Art von Langeweile ist auf jeden Fall die existenziell bedrohlichste.  

Michaela Krützen schaut durch ihre Bücher.

Michaela Krützen und ihr Buch „Zeitverschwendung“. (Foto: privat)

baugerüst: Wieso haben sie ausgerechnet die Figuren aus dem großen Gatsby ausgesucht?  

Krützen: Das war eher andersherum, sie sind mir quasi in den Schoß gefallen. Ich habe bei diesem Buch versucht, anders zu arbeiten als sonst im Leben. Normalerweise plane ich alles minutiös. Dieses Mal habe ich Figuren gewählt, die mich angesprochen haben und geschaut, was daraus wird. Beim Gatsby dachte ich an die „Lost Generation“ dieser Jahre, die zu viel Reichtum hatten. Als ich dann gemerkt habe, dass die Figuren auch noch zu der Theorie Heideggers passen, habe ich mich sehr gefreut.  

baugerüst: Wie kann man diesen Gedanken, dass man es sich leisten können muss, sich zu langweilen, aufs echte Leben beziehen? Passt das heute auch noch?

Krützen: Heute sind, zumindest in Deutschland, die ökonomischen Verhältnisse anders. Sie können auch als Bürgergeldbezieher oder Bürgergeldbezieherin nichts tun. Dann haben Sie auch genügend Zeit, in der Sie sich langweilen können, da Sie nicht mehr verhungern, wie das in der Depressionszeit in den USA gewesen ist. Sie können zum Teil gar nichts tun, weil Sie kein Geld haben. Die Situation ist also auf jeden Fall anders als in den 20er Jahren. Aber klar, es gibt auch reiche Leute, die aus Langeweile irgendetwas tun, das erzählt uns das Reality TV ja rauf und runter, aber wir müssen uns jetzt hier nicht mit den Kardashians beschäftigen. Wir können vom großen Gatsby auf jeden Fall auch etwas für die heutige Zeit lernen, auch wenn man dazu ein bisschen genauer hinschauen und -denken muss. Aber das ist gut, wer denkt, der langweilt sich nicht. 

baugerüst: Das ist richtig. Mit Gedanken füllt man auch Wartezeiten.

Krützen: Wir können uns immer etwas ausdenken oder innerlich etwas schreiben oder uns eine Traumwelt aufbauen. Wer das kann, langweilt sich nicht. Ein gutes Beispiel dafür sind Gottesdienste. Die können ja wirklich ein Quell der Langeweile sein, da kann man sehr viel Zeit mit Denken verbringen. Ich beobachte bei meiner Tochter, wie sie die Zeit dann verbringt, zum Beispiel, wenn sie versucht, auszurechnen, wie lange es noch bis zum Vaterunser dauert.

baugerüst: Fallen Ihnen noch weitere Beispiele zum Thema Langeweile und Medien ein neben dem großen Gatsby? Ich musste beispielsweise an die Tribute von Panem denken, wo die Menschen in der Hauptstadt an ihrer Langeweile leiden. 

Krützen: Das Brot- und Spiele-Prinzip zieht sich ja durch die gesamte Gesellschaft. Quasi der Gladiatorenkampf zum Zeitvertreib. Vor uns war jedoch keine Gesellschaft so gut darin, den Zeitvertreib zu uns zu bringen. Früher mussten Sie sich ja zumindest noch aufraffen, eine Toga überwerfen und das Haus verlassen, um einen Gladiatorenkampf zu besuchen, heute haben wir die Zeitzerstörungsmaschine immer griffbereit, so dass wir Langeweile gar nicht mehr als solche erkennen können. Adorno hätte gesagt, dass das alles erfunden wurde, damit jeder Gedanke an Widerstand ausgerottet wird. Weil wir so gut unterhalten sind, haben wir keine Zeit zu demonstrieren.

baugerüst: Bedeutet das, dass Langeweile nötig ist, um Demokratie zu erhalten?

Krützen: Das haben Sie mutig formuliert und ich sage: durchaus. Wenn ich daran gewöhnt bin, keine Muße zu haben, sondern freie Phasen direkt zu zerstören, dann habe ich keine Zeit nachzudenken. Wenn ich gut unterhalten bin und an den Nachrichten klebe, weil jede Minute ein neuer Wahnsinn passiert, dann habe ich keine Zeit zum Demonstrieren. Die Langeweile wird dadurch aber eigentlich immer schlimmer. Ich zerstreue die Zeit, damit ich keine Angst vor Langeweile haben muss, merke dann aber, dass ich die Zeit zerstört habe und bin damit unglücklich. Aber gegen wen will ich denn da demonstrieren, gegen mich selbst? Also schiebe ich das Unglück weg, indem ich wieder Zeit zerstreue. Wie ein Junkie.

baugerüst: Das klingt, als wäre Medienkonsum grundsätzlich negativ zu bewerten. 

Krützen: Ich sage es mal so: Achterbahnfahren macht auch nicht unbedingt schlauer, trotzdem sind wir sofort bereit, das also Freizeitvergnügen zu akzeptieren, weil wir wissen, wir fahren nur einmal und nicht 200 Mal. Die alten Leute werden natürlich nervös, wenn etwas die gesamte Zeit von Teenagern auffrisst. Das war beim Kino so, bei Romanen, beim Fernsehen und jetzt eben bei TikTok.

baugerüst: Gibt es auch positive Figuren in Bezug auf Zeit in den Medien? 

Krützen: Die meisten Figuren werden nicht in ihrer Langeweile gezeigt, sondern in dem Moment, in dem sie erfüllt sind. Beispielsweise ist der Big Lebowski eine absolute Kultfigur. Er hat wirklich die langweiligste Existenz, die man sich vorstellen kann, er geht zum Bowlen, trägt meistens einen Bademantel und trinkt, aber im Film wird er sehr positiv dargestellt. 

baugerüst: Brauchen wir die Langeweile oder liegen wir richtig damit, sie zu zerstreuen?

Krützen: Wir brauchen die Langweile, um sie in Muße zu überführen. Das müssen wir im besten Fall bereits als Kinder lernen. Aus der Leere Fülle zu machen, das ist wichtig, der Weg dahin ist letztlich egal. Wir sprechen nicht von der aufgedrängten Langeweile, die sich zum Beispiel in der Schule ereignet, sondern von der, die sich einstellt, zum Beispiel in langen Sommerferien. Wer hält es denn überhaupt noch aus, einfach ins Kaminfeuer oder aufs Meer zu schauen?

baugerüst: Brauchen wir in jeder Gemeinschaft jemanden, dem immer ein bisschen langweilig ist?

Krützen: Sinnvoll ist das. Das können Menschen sein, die alles zusammenhalten, die Macherinnen und Macher. Solange das nicht krankhaft ist – das gibt es ja auch – und solange sie niemandem mit ihrer Ruhelosigkeit auf den Zeiger gehen und wenn sie nicht nur ihre eigenen Projekte im Kopf haben. Diese Menschen können die Gemeinschaft stützen, zum Beispiel, indem sie ihre Energie in ein Ehrenamt umwandeln und beispielsweise die F-Jugend trainieren, statt ins Fitnessstudio zu gehen. Die meisten Menschen haben eigentlich mehr Zeit, als sie sich eingestehen.


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Du findest weitere Artikel dazu in der Ausgabe 3/25 Langeweile.

Titelbild: Kleine Kinder verbringen mit großer Hingabe viel Zeit auf Spielplätzen, was für Eltern ein Quell der Langeweile sein kann. (Foto: Arnica Mühlendyck)

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