Media Life Balance
Annika Gramoll

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UNBOX IT! 7 Methoden zur digitalen Selbstbestimmung

Digitalisierung, Digitalität und digitale Endgeräte gehören zum Alltag. Diese Erkenntnis ist mittlerweile nicht mehr ganz neu, so zeigt die JIM-Studie seit nunmehr zwölf Jahren, dass 98 Prozent der jungen Menschen (zwischen zwölf und 19 Jahren) in Deutschland ein Smartphone haben.1 Das zeigt auch die ARD/ZDF-Onlinestudie mit ihren Daten zur Internetnutzung, in denen belegt wird, dass die Altersgruppe 30  bis 49 Jahre das Internet zu 100 Prozent, die Gruppe 50 bis 69 Jahre zu 97 Prozent und die Gruppe ab 70 Jahren und älter das Internet zu 76 Prozent nutzen.2 Mit der nahezu flächendeckenden Nutzung ergeben sich die Fragen: 

  • Was machen wir eigentlich mit den Medien? 
  • Was machen Medien mit uns? 
  • Und wie gestalten wir Medien?

Dazu hat die Evangelische Trägergruppe für gesellschaftspolitische Jugendbildung das siebenteilige Methodenset „UNBOX IT! 7 Methoden zur digitalen Selbstbestimmung“ entwickelt. 

Das Methodenset soll einen Einstieg von der individuellen Betroffenheit in den gesellschaftspolitischen Kontext leisten. Die Methode befähigt Jugendliche zu einem reflektierten Umgang mit Medien und zu einem kritischen Bewusstsein für Strukturen digitaler Medien und schult so ihre Urteilsfähigkeit. Mit UNBOX IT! werden Jugendliche als Gestalter*innen der digitalen Welt verstanden und in einem kompetenten Handeln in digitalen Medien unterstützt. 

Fast alle Jugendlichen in Deutschland zwischen zwölf und 19 Jahren haben ein Smartphone

UNBOX IT! nimmt sieben Themen in den Blick, die im aktuellen Diskurs im Umgang mit digitalen Medien vorkommen. Der Zugang zu den Themen wird über die beiden Comic-Figuren Oma Anna und Opa Viktor hergestellt. Beide haben ein Smartphone und können gut damit umgehen. In ihrer alltäglichen Nutzung begegnen ihnen Fragen, zu denen sie um Beratung bitten. Dazu gehören der Umgang mit Falsch- oder Hassnachrichten im Netz oder Ressourcen, die für die Hardware des Smartphones benötigt werden. Das Verständnis von Plattformmechanismen wird am Beispiel von Instagram aufgenommen, es werden Fragen rund um das Recht am eigenen Bild einbezogen, sowie über Selbstdarstellung im Internet diskutiert. Ein weiteres Thema ist die Aufmerksamkeitsökonomie, die durch die Algorithmen der Plattformen maßgeblich beeinflusst wird.

Oma Anna und Opa Viktor

Viele Jugendliche (und Erwachsene) haben den Wunsch nach mehr Selbstkontrolle

UNBOX IT! ist für Jugendliche zwischen zwölf und 14 Jahren konzipiert. Die Module sind für Gruppengrößen von acht bis 30 Personen entwickelt. Jede Methode ist für 90 Minuten inklusive Auswertung angelegt. Die Vorbereitungszeit ist darin nicht enthalten. Stattfinden kann UNBOX IT! dort, wo mit den Jugendlichen gearbeitet wird: Im Jugendclub, auf Seminartagung, im Klassenzimmer. Das Methodenset ist so aufgebaut, dass es alle, die mit jungen Menschen arbeiten, nutzen können. Hilfreich, aber nicht notwendig, sind Fachkenntnisse der politischen Bildung oder Medienbildung. Die Module bauen nicht aufeinander auf, sie können einzeln eingesetzt sowie miteinander verbunden werden. Die Module sind in ihren Methoden vielfältig und funktionieren binnendifferenziert. 

Praxiseinblick in das Modul „Brainhack oder wie das Smartphone unsere Zeit frisst“

Das Modul „Wie das Smartphone unsere Zeit frisst“ wurde mit mehreren Jugendgruppen durchgeführt und auch in Schulungen von Fachkräften eingesetzt. Der Praxiseinblick gibt Erfahrungen mit den jeweiligen Zielgruppen wieder.

In dem Comic ist Oma Anna zu sehen, die etwas auf dem Smartphone nachschaut, während gleichzeitig mächtig schwarzer Rauch aus dem Ofen qualmt und Opa Viktor erschrocken nach ihr ruft. Als Jugendliche aus einem Jugendtreff diese Szene lesen, schmunzeln sie, einige nicken oder sagen: „Oh Mann ja, das kenne ich voll!“ Das Verhalten, eigentlich nur kurz auf die Uhr schauen zu wollen und plötzlich durch Chatnachrichten oder auf Plattformen buchstäblich die Zeit vergessen zu haben, kennen viele der Jugendlichen. 

Erwachsenen ist dieses Phänomen auch gut bekannt, wie sich auf Multiplikator*innenschulungen für das Methodenmodul zeigt. Die Jugendlichen berichten, dass sie in solchen Momenten auf Plattformen wie Instagram oder TikTok „versacken“ oder länger ein Spiel spielen, als sie vorher erwartet haben. Multiplikator*innen wie Jugendliche stellen fest, dass sie von diesem Phänomen häufig eher entnervt sind und es dann meist auftritt, wenn sie unter Stress stehen, verärgert sind oder sich in Ablenkung verlieren wollen. Sie beschreiben auch, dass es leicht ist, sich dem hinzugeben, da besonders Videos, bunte Aufnahmen und Inhalte gezeigt werden, die an das eigene Interesse (oder die Interessen) anknüpfen oder welches wecken und dazu verleiten, weiterzuschauen. In der Erwachsenengruppe wird das Phänomen als eher unangenehm, manchmal peinlich beschrieben und es besteht der Wunsch nach mehr Selbstkontrolle, um sich dem entgegen zu stellen.

Warum ist mir mein Smartphone wichtig?

Die Sammlung der Jugendlichen deckt sich mit den Erkenntnissen der JIM-Studie. Das Smartphone dient der Kommunikation und Unterhaltung, dem Spiel, für die Recherche zu Hausaufgaben oder anderen Interessensgebieten, zum Musik hören, zum Ablenken und Abschalten oder als Navigationsinstrument. Erwachsene fügen hinzu, dass sie ihre Smartphones besonders für die Alltagsorganisation, als Taschenlampe, für ihr Finanzmanagement und zum Nachrichtenlesen und -schauen nutzen. Beide Gruppen finden die Möglichkeit, so vieles in einem Gerät zu vereinen, positiv.

Wann stresst mich mein Smartphone? 

Die Jugendlichen und Erwachsenen beantworten diese Frage sehr ähnlich. Große Stressoren sind, wenn das Smartphone die Dinge nicht tut, die es tun sollte. Dazu gehören niedrige Akkustände, volle Speicher, wenn das Gerät verlegt ist oder Zeitbeschränkungen greifen. Wobei letzteres nur von Jugendlichen benannt wird, da Zeitbeschränkungen durch Apps von Eltern festgelegt werden. Der Unmut, der daraus entsteht, bezieht sich auf die Sorge, nicht teilhaben zu können, plötzlich aus Kommunikationsflüssen auszusteigen oder im Spiel zu verlieren. Beide Gruppen beschreiben die ständige Erreichbarkeit, die Informations- und Nachrichtendichte mit einem Reaktionsdruck, wie auch die Angst, etwas zu verpassen, als Sorgen.

UNBOX IT! – Balance it!

Im Konzept aller Module ist angelegt, dass der Umgang mit Medien völlig normal ist und dass über diesen Umgang, konkret wann er gut tut oder wann er nicht gut tut, gesprochen wird. Beide Gruppen berichteten, dass es im Alltag wenige Austauschräume dazu gibt. Wenn Austausch darüber besteht, dann eher mit einer negativen Konnotation, mit der das Verhalten „zu lange“ am Smartphone zu sitzen, bewertet wird. Dass die Funktionsweisen von Plattformen wie Instagram oder TikTok aber auch von Chatdiensten wie WhatsApp oder SnapChat so entwickelt sind, dass sie die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, wird wenig besprochen.

Aufmerksamkeitsbündelung

Stellt euch vor, ihr seid ein Konzern, der ein neues Produkt auf den Markt bringt. Wie nutzt ihr Plattformen wie Instagram oder TikTok, um möglichst viel Aufmerksamkeit für euer Produkt zu bekommen? Mit dieser Frage konfrontiert, identifizierten die Jugendlichen in Kleingruppen innerhalb von fünfzehn Minuten Strategien, die durch den Algorithmus der Plattformen zu einer hohen Verbreitung führen: Für die Reichweitengewinnung möglichst mit Influencer*innen zu kooperieren, ein gutes Communitymanagement aufzubauen, crossmedial zu wirken, auf Videoformate zu setzen, das eigene Produkt bei anderer Produktwerbungen zu verlinken, ein Schneeballsystem aufzubauen, jugend- und popkulturelle Inhalte aufzunehmen und zielgruppengerecht zu verarbeiten sowie mit Gewinnspielen und „Goodies“ zu arbeiten. Im Anschluss stellten die Kleingruppen ihr jeweiliges Produkt und die passenden Strategien vor. Die Gruppe war in der Gesamtpräsentation erstaunt, wie viele Strategien sie entdeckten und berichteten in der Diskussion, wo und in welchen Zusammenhängen sie ihnen begegnen. So wurde sehr schnell deutlich, dass hinter vielen Posts Arbeit und Kalkül für eine hohe Reichweite stehen. Gleichzeitig sind die Funktions-weisen der Algorithmen intransparent, weshalb viele Inhalte geteilt werden, denen die Jugendlichen kritisch gegenüberstehen.   

Warum tut ein Like so gut?

Auf Plattformen ist es mittlerweile Standard, dass Posts mit Reaktionen wie Likes bewertet werden können, auch in Chatdiensten ist dies möglich. Jugendliche berichten, dass sie durch Likes ein Gemeinschaftsgefühl erleben, sie bekommen Anerkennung, haben das Gefühl, dass andere sich Zeit für sie nehmen, fühlen sich verbunden und bestätigt. Gleichzeitig sagen sie, dass es ihnen leichter fällt, online Komplimente durch Likes zu verteilen, als in der Begegnung vor Ort und dass ausbleibende Likes Unsicherheit hervorrufen. In der Erwachsenengruppe zeigte sich, dass Likes meist ein „zur Kenntnis nehmen“ für sie darstellen und eine schnelle, unverfängliche Bestätigung sind. Gleichzeitig finden sie sich manchmal in einem Wettbewerb um Likes wieder und ähnlich wie auch die Jugendlichen empfinden sie Likes als Bestätigung, Sichtbarkeit und Ort von digitaler Zugehörigkeit.

UNBOX IT! oder wie Zeitfresser gebändigt werden können

In der Diskussion um Umgangsstrategien arbeitete die Jugendgruppe gesellschaftspolitische Forderungen heraus. So wünschte sie sich mehr Medienbildung, leichtere Möglichkeiten, Hass und Falschnachrichten auf den Plattformen melden zu können, die Einschränkung von Werbestrategien auf Plattformen und bessere Altersbeschränkungen. 

Die Jugendgruppe und die  Gruppe der Multikplikator:innen sammelten Ideen und bestehende Strategien oder Experimente zu der Frage, was sie tun können, wenn sie wieder einmal in das „Zeitfresserloch“ gefallen sind und plötzlich mehr Zeit vergangen ist, als sie ursprünglich dachten. Um Oma Anna und Opa Viktor bei ihrer Frage zu helfen, trugen sie zusammen: Smartphone im schwarz-weiß Modus nutzen, stumm schalten, einen focus mode einstellen und sich bewusst Zeit nehmen, das Smartphone wie auch das eigene Zimmer aufräumen, sich nicht zu viele Sorgen machen, wenn mal wieder die Zeit verrauscht ist, Freunde treffen oder Deals mit sich ausmachen, die beinhalten, dass zweimal so viel Zeit zum Lesen genutzt wird, wie zum Spielen. In der Erwachsenengruppe fielen die Antworten ähnlich aus, sie betonten die bewusste Entscheidung, Zeit am Smartphone zu verbringen, sich selbst Zeitbegrenzungen zu setzen und für den Impuls aufmerksam zu werden, der sie das Smartphone in die Hand nehmen lässt. Beiden Gruppen war wichtig, Räume zu finden, in denen genau solche Phänomene geteilt und Strategien weiterentwickelt werden können. Es tat ihnen gut zu merken, dass sie nicht alleine mit den Fragen sind.

Likes: Bestätigung, Sichtbarkeit, digitale Zugehörigkeit

Mehr Informationen zum neuen Tool UNBOX IT! gibt es unter www.politische-jugendbildung-et.de/methodenentwicklung-mit-von-oder-fuer-jugendliche/

Annika Gramoll ist Erziehungs- und Bildungswissenschaftlerin und arbeitet als Referentin für politische Jugendbildung in der Geschäftsstelle der Evangelischen Trägergruppe für gesellschaftspolitische Jugendbildung in Berlin.

Du hast Interesse am Thema „Resilienz“?
Du findest weitere Artikel dazu in der Ausgabe 2/25 Resilienz

Titelbild: Bodenbild in der Einheit „Brainhack“ (alle Fotos: Annika Gramoll/Unbox IT!)

Literatur

  • 1 Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest mpfs (2024): JIM 2024. Jugend, Information, Medien. Basisuntersuchung zum Medienumgang 12- bis 19-jähriger in Deutschland. Stuttgart. mpfs.de/app/uploads/2024/11/JIM_2024_PDF_barrierearm.pdf (abgerufen am 28.02.2025).
  • 2 ARD/ZDF-Medienstudie 2024. Grundlagenstudie im Auftrag der ARD/ZDF Forschungskommission. www.ard-zdf-medienstudie.de/files/Download-Archiv/Medienstudie_2024/Basispraesentation_ARD-ZDF-Medienstudie_2024.pdf (abgerufen am 28.02.2025, S.49).

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