Oasen am Wegesrand und Gespräche über Gott und das Leben
Im Gespräch mit Thomas Weber

Oasen am Wegesrand und Gespräche über Gott und das Leben

Oasen am Wegesrand und Gespräche über Gott und das Leben

Ein Gespräch mit Olympiapfarrer Thomas Weber, über seine Aufgaben als Stadionpfarrer,
die Verbindung von Kirche und Sport und über den Umgang mit einem Übermaß an
sportlichem Ehrgeiz

baugerüst: Sie sind Olympiapfarrer und Sportbeauftragter der Evangelischen Kirche von Westfalen sowie Mitglied im Vorstand des Arbeitskreises Kirche und Sport der EKD. Ein ungewöhnlicher Weg für einen Pfarrer: Was hat sie auf diesen Weg geführt?  

Weber: Ich bin mit Herz und Seele Gemeindepfarrer in der Westfälischen Landeskirche, schon seit meinem Vikariat. In den 90er Jahren bin ich als junger Pastor beim Kirchentag in München auf dem Markt der Möglichkeiten am Stand von „Kirche und Sport“ mit dem Sportbeauftragten von Westfalen ins Gespräch gekommen. So kam ich zum westfälischen Arbeitskreis ”Kirche und Sport“. Das hat mir wirklich Spaß gemacht, wir haben zum Beispiel ein Fußballturnier veranstaltet und eine Fortbildung für Pfarrerinnen und Pfarrer im Sportbereich entwickelt. Dadurch bin ich dann auch mit der Sportarbeit der EKD in Kontakt gekommen. Ich war bei den jährlichen Treffen und bei der nächsten Wahl wurde ich in den Vorstand gewählt.  

Im Vorstand wurde 2005 darüber gesprochen, wer die deutsche Olympiamannschaft nach Turin begleiten kann. Vorausschicken muss ich, dass ich schon 2003 vom damaligen Olympiapfarrer Klaus-Peter Weinhold gefragt worden war, ob ich zur Universiade, also zu den Weltspielen der Studierenden, nach Südkorea fahren möchte. Ich war damals 20 Jahre jünger und die Universiade fand in den Sommerferien statt, also bin ich natürlich hingefahren. 2005 war Klaus-Peter Weinhold schon nicht mehr im Dienst und die Stelle war nicht wiederbesetzt worden. Schade, denn der Bereich Kirche und Sport ist so wichtig. Das ist ein riesiges Thema in unserer Gesellschaft, da gibt es eine große Schnittmenge, viele Gemeindemitglieder sind sportlich aktiv.  

Es sollte also jemand aus dem Vorstand des Arbeitskreises Kirche und Sport die Dienste als Olympiapfarrer übernehmen. Von sieben Vorstandsmitgliedern war ich der Einzige, der es sich vorstellen konnte. Einer war dienstlich verhindert, einer fühlte sich zu alt, einer fand, Seelsorge sei nicht sein Feld und so ging es weiter. Ich blieb als siebter und letzter übrig und die anderen waren der Meinung, das sei „genau mein Ding“, da ich als Seelsorger bereits über Universiade-Erfahrung verfügte. Also bin ich dann Olympiapfarrer geworden, ohne mich dafür ausdrücklich gemeldet zu haben. Ich hoffe, ich kann auch nächstes Jahr in Paris dabei sein, die Vorbereitungen laufen ja mittlerweile an. Die katholische Olympiaseelsorgerin Lisa Keilmann und ich stehen bereit, dass Team Deutschland wieder zu unterstützen. Bisher habe ich viermal die olympischen Winterspiele begleitet und dreimal die Sommerspiele, außerdem neunmal die Universiade. Die letzten beiden Olympia-Veranstaltungen sind wegen der Corona-Pandemie nur mit ganz kleiner Mannschaft durchgeführt worden ohne Seelsorge-Team. Wir standen zwar digital zur Verfügung, aber das ist natürlich nicht das gleiche. 

baugerüst: Was sind Ihre Aufgaben als Olympiapfarrer? 

Weber: Das eine sind die persönlichen, seelsorgerlichen Kontakte zu den Sportlerinnen und Sportlern. Bei der Universiade stehen die jungen Leute noch ganz am Anfang ihrer Karriere, bei den olympischen Spielen sind sie schon ganz oben angekommen. Auch die Kontakte zu den Trainerinnen und Trainern und den Betreuerinnen und Betreuern sind wichtig.  

Eine junge Sportlerin hat mir einmal gesagt, dass der Begriff „Seelsorge“ sehr passend wäre, denn es sei ja nicht selbstverständlich, dass jemand bei den Veranstaltungen dabei ist, der sich um ihre Seele kümmert. Es sorgt sich jemand um den Körper und um die Psyche, aber die Seele ist einfach etwas anderes. Seelsorge heißt, das ganze Leben im Blick zu haben. Ich führe ganz normale, alltägliche Gespräche, so wie auch in der Ortsgemeinde in Westfalen. Es geht um Beziehungen, um Familie, um Tod und Sterben, um die Kinder und um die Frage: „Was wird denn aus mir, wenn es mit dem Sport vorbei ist?“

Bei meinen ersten olympischen Spielen in Turin hat mich damals ein Journalist vor dem Athletendorf interviewt. Er wollte dann den Nächsten, der rauskommt, fragen, wie er es findet, dass ein Seelsorger dabei ist. Ich habe ein Stoßgebet zum Himmel geschickt, dass derjenige, der das Dorf verlässt, zumindest weiß, was ich tue. Es kam ein Teamverantwortlicher aus dem Curling-Bereich. Der sagte, er fände das richtig gut, denn innerhalb der Mannschaft würde man untereinander nur über Sport sprechen, über Siege und Niederlagen, über Verträge und Fördergelder. Es sei so wertvoll, dass zur Olympiamannschaft auch Menschen gehören, mit denen man über das ganz normale Leben reden kann. Das war natürlich die ideale Antwort.  

Lisa und ich geben unseren Kirchen dort ein Gesicht. Viele haben mit Kirche eigentlich nichts oder nichts mehr am Hut. Aber alle verbinden mit Kirche etwas, positives und negatives, wenn sie einem Pfarrer begegnen. Viele verbinden mit mir, dass ich als Pfarrer Ahnung vom Leben habe und verschwiegen bin, so dass sie mit mir angstfrei reden können. Manche fragen mich auch: Glauben Sie wirklich an Gott? Die Bibel ist doch altmodisch und in der Kirche passieren nur Skandale. Mit diesen Menschen komme ich dann über den Glauben ins Gespräch, das ist auch wichtig. Oft muss ich gar nichts sagen, es kommt einfach so ein Gespräch in Gang. Viele hängen trotz ihrer Zweifel noch am Glauben oder ich habe irgendwie ihre Neugier geweckt. Diese Gespräche lassen sich von klassischer Seelsorge nicht trennen. Da geht es um die tiefsten Fragen des Lebens.  

Natürlich bieten wir auch Gottesdienste und Andachten an. Allerdings ist bei solchen Großveranstaltungen die Zeit für alle knapp, die einen trainieren, die anderen haben Teambesprechung, wieder andere werden vom Physiotherapeuten fit gemacht. Darum sind es nicht so viele Menschen, die Andachten besuchen. Aber die, die da sind, freuen sich, mal eine Stunde zur Ruhe zu kommen. Zum Beispiel war 2008 in Peking eine Goldmedaillengewinnerin im Gottesdienst, die war sichtlich bewegt und konnte ihr Glück kaum fassen. In Rio gab es 2018 einen Todesfall, da war die Betroffenheit in der Olympiamannschaft natürlich groß. Es gab dann eine Trauerfeier, die wir mitgestaltet haben. Mein Vorgänger hat diese gottesdienstlichen Angebote „Oasen am Wegesrand“ genannt. 

baugerüst: Kirche und Sport – wo treffen sich die beiden Disziplinen, wo schließen sie sich aus? 

Weber: Zwischen Kirche und Sport gibt es eine große Schnittmenge. Wenn ich in der Gemeinde frage, wer Sport treibt, dann trauen sich manche gar nicht zu antworten, weil sie denken, einmal die Woche schwimmen gehen sei ja kein richtiger Sport. Bei Olympia und der Universiade geht es natürlich um Hochleistungssport. Aber es ist wichtig, sich klarzumachen, dass Sport nicht gleich Sport ist. Es ist etwas völlig anderes, ob ich Hochleistungssportler bin oder im örtlichen Sportverein Fußball spiele.  

Wir sehen uns als Geschöpfe Gottes und Gott hat uns einen Körper gegeben. Es ist falsch, den Körper nur als unwichtige Hülle zu sehen. Ich empfinde mich als Einheit. Wenn mein Körper sich wohl fühlt, dann geht es mir besser und wenn mich etwas beschäftigt, dann scheint es auch dem Körper schlechter zu gehen. Ich sage dann zum Beispiel „Das schlägt mir auf den Magen“. Sport hilft mir, auf andere Gedanken zu kommen und den Kopf freizukriegen. Wenn ich beim Tennisspielen an meinen Terminkalender denke, dann verliere ich den Satz. Und auch beim Skilaufen muss ich mich konzentrieren und genieße gleichzeitig die frische Luft und die Schöpfung, wenn ich den Berg
hinunterfahre.  

Außerdem wird beim Sport auch viel über Werte gesprochen, zum Beispiel über Fairness und Respekt. Der Sport ist ein Spiegelbild unserer Gesellschaft. Wir klagen darüber, dass es zunehmend Menschen gibt, die nur sich selbst im Kopf haben. Das ist auch im Sport so, gerade im Profi-Sport ist die Versuchung des Gewinnen-Wollens um jeden Preis groß.  

Aber im Sport erleben wir auch Gemeinschaft, durch gemeinsames Sporttreiben kommt man viel leichter ins Gespräch. Wenn wir im Anschluss zusammensitzen, werde ich oft als Pastor angesprochen. Ich freue mich, dass ich meinen christlichen Glauben auf diesem Weg weitergeben kann. Der Sport bietet allen Christen diese Möglichkeit, nicht nur den Hauptamtlichen, die am Sonntagmorgen auf der Kanzel stehen. Sie alle können weitergeben, welche Hoffnung es in unserem Leben gibt.  

Und dann stellen sich auf dem gro-ßen Feld des Sports ja auch ethische Fragestellungen. Wie war es denn mit den Menschenrechten und der Nachhaltigkeit bei der Fußball-WM in Katar? Was haben wir aus kirchlicher Perspektive dazu zu sagen, da wir eben nicht aus Sicht des Hochleistungssports auf diese Fragen schauen?  

Im Bereich Kinder- und Jugendarbeit und bei der Konfirmandenarbeit sollte Sport auch einen hohen Stellenwert haben. Ohne Bewegung zwischendurch geht es nicht. Schön finde ich, wenn bei Freizeiten plötzlich Jung und Alt miteinander spielen oder wenn man auf dieser Basis miteinander ins Gespräch kommt. Sport ist in der Gemeindearbeit eine große Chance, sich zu öffnen. Auch, wenn ich regelmäßig mit dem Vorurteil kämpfen muss, dass wir doch eigentlich für etwas ganz anderes zuständig sind. 

baugerüst: Welche Sportarten halten Sie für besonders kompatibel oder auch für besonders ungeeignet für die kirchliche Sportarbeit?  

Weber: Es fällt mir schwer, die Frage zu beantworten. Vor kurzem erst haben wir eine Fortbildung zum Thema „Spiel in der Gemeindearbeit“ für westfälische und rheinische Pfarrerinnen und Pfarrer durchgeführt. Der Mensch ist eigentlich nur da Mensch, wo er spielt, sagt man ja. Wir haben Bewegungsspiele ausprobiert, aber auch biblische Texte gespielt. Als ich von der Fortbildung kam, mussten gleich die Konfirmanden einige der Spiele testen. Aber ich habe auch mit dem Seniorenkreis gespielt und mit dem Männerkreis, alle fanden das super. Die Verbindung zum Sport ist beim Spiel so naheliegend, wir sprechen ja zum Beispiel auch vom Fußball-Spiel. Der Gedanke des Spiels steckt in so vielen Sportarten, das wird nur oft überlagert vom Profi-Sport.  

Ich muss in der Gemeinde einfach schauen, was möglich ist und was mir auch selbst Spaß macht. Pfarrer ist ja auch deshalb ein Traumberuf, weil man selbst mit entscheiden kann, was man machen möchte. Wir haben zum Beispiel eine Walking-Gruppe ins Leben gerufen, um miteinander unterwegs zu sein. Einmal die Woche kommen wir daneben zum „Kirchensport“ zusammen, dort treffen sich jüngere und ältere Menschen. Meistens spielen wir Fußball oder Volleyball. Ich kenne auch Kolleginnen und Kollegen, die im Keller des Gemeindehauses eine Boulderhalle eingerichtet haben. Bei den Jugendlichen ist gerade auch Tischtennis wieder in. Mir fällt keine Sportart ein, die ich nicht machen würde im kirchlichen Kontext. Man muss einfach herausfinden, was interessant für die Gemeinde ist.  

Im „normalen“ Leben ist Thomas Weber Gemeindepfarrer. (Foto: privat)

baugerüst: Hilft Sport und Spiel, Kirche interessant zu gestalten?  

Weber: Auf jeden Fall. Spielen hört sich ja immer ein bisschen nach Kaffeerunde und Kartenspiel an. Aber das ist so viel mehr. Die beste Einheit in der Frauenhilfe hatte ich zum Beispiel dank meiner alten Carrerabahn. Ich habe die Bahn aufgebaut, am Anfang waren einige zurückhalten, andere waren gleich motiviert. Als ein Auto aus der Kurve geschleudert wurde, sagte eine Frau, dass das kein Wunder sei, sie wäre ja schon seit 20 Jahren nicht mehr Auto gefahren, weil ihr Mann ihr das nicht zutraut. Und schon hatten wir eine großartige Gesprächsrunde über die Rolle der Männer und Frauen und über den Führerschein. Spiel ist mehr als Ablenkung, es kann Türöffner sein.  

baugerüst: Wie können Mitarbeitende der Kirche mit Menschen umgehen, die über das normale Maß hinaus sportlichen Ehrgeiz entwickeln?

Weber: Das ist ein sehr spannendes Thema. Ich erlebe häufig im Konfirmanden-Kurs Eltern, die von einer Profikarriere ihres Kindes im Fußball träumen.  

Im Gespräch mit Profi-Sportlern frage ich diese oft, ob sie sich für ihr Kind einmal wünschen, dass es den gleichen Sport wie sie betreibt. Die Antworten fallen je nach Sportart ganz unterschiedlich aus. Manche finden das gut, andere würden ihrem Kind zwar den Sport empfehlen, aber möchten ihnen das quälende Training ersparen. Wiederum andere sagen, sie würden auf jeden Fall dafür sorgen, dass ihr Kind ihre Sportart niemals erlernt – sie hätten keine Kindheit gehabt, sagen sie, sprechen von seelischen Verletzungen und Einschränkungen. Das macht mich natürlich nachdenklich und hellhörig. Welche Rolle habe ich als Elternteil in der sportlichen Entwicklung meiner Kinder?  

Das Stichwort „Mental Health“ spielt eine immer wichtigere Rolle im Sport. Viele Athleten fühlen sich überfordert und ausgebrannt. Gerade bei den Universiaden ist es meine Aufgabe, mit den jungen Leuten über Perspektiven für ihr Leben zu sprechen. Diese Frage ist wichtig für Menschen, die ganz oben angekommen sind, aber noch wichtiger für jene, die nie den Sprung vom B- in den A-Kader schaffen. Sie stellen sich verschiedene Fragen: Was wird aus mir nach dem Sport? Was passiert, wenn ich mich verletze? Es ist gut, dass sich viele Trainer:innen den Menschen verpflichtet fühlen und Verantwortung übernehmen für das Leben der jungen Menschen. Aber natürlich ist der Wunsch, einen Spitzensportler zu trainieren, der Medaillen gewinnt, auch groß. Am wichtigsten ist es, den jungen Sportlerinnen und Sportlern und auch den Trainer:innen immer wieder bewusst zu machen, was es neben dem Sport noch alles gibt.  

Dazu kommt noch ein anderer Aspekt, den wir uns als Kirche vor Augen führen müssen: Manche jungen Sportlerinnen und Sportler möchten sich eigentlich gerne konfirmieren lassen, haben aber durch das viele Training ein Zeitproblem. Ein Sportler hat mir erzählt, er sei nicht konfirmiert worden, weil sein Pfarrer fand, er sei nicht oft genug im Gottesdienst und beim Unterricht gewesen wegen des Trainings. Eine Sportlerin sollte kurz vor der Konfirmation noch Gottesdienstbesuche nachweisen, sie war dann in jedem Weihnachtsgottesdienst vom Heiligen Abend bis zum 2. Feiertag, um das zu schaffen. Mich rufen auch manchmal Kolleginnen und Kollegen an, die Beratung brauchen in diesem Bereich. Wenn sich beispielsweise Jugendliche zum Konfikurs anmelden und die Eltern vorab schon ankündigen, dass jede zweite Woche durch den Hochleistungssport der Unterricht nicht besucht werden kann. Im kirchlichen Dienst sind wir auf jeden Fall herausgefordert, für junge Sportlerinnen und Sportler, die kirchliche Begleitung suchen, Lösungen zu finden. Zum Beispiel könnte man einen digitalen Konfi-Kurs entwickeln. Dann könnte man beispielsweise auch vom Schwimmwettkampf in Italien am Zoom-Meeting teilnehmen.  

In Berlin steht an der Außenwand der Stadionkapelle geschrieben „Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele?“ Ich glaube, dass viele Menschen auch im Sport Schaden an der Seele nehmen. Es ist wichtig, den jungen Menschen immer wieder zu sagen, dass es noch etwas anderes neben dem Sport gibt. Wir müssen als Kirchen kritische Begleiter sein, auch im Bereich des Sports.

Thomas Weber ist Mitglied im Vorstand des Arbeitskreises Kirche und Sport der EKD, Olympiapfarrer sowie Sportbeauftragter der Evangelischen Kirche von Westfalen. Das Interview führte Arnica Mühlendyck (verantwortliche Redakteurin beim „baugerüst“ seit 2022).

Du hast Interesse am Thema „Sport“?
Du findest weitere Artikel dazu in der Ausgabe 3/23 Sport und Bewegung.

Titelbild: Thomas Weber (2.v.l.) bei den Olympischen Spielen in Sotschi 2014 mit dem Bobteam.
(Foto: privat)

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