Ein Plädoyer für die Langeweile
Arno Schäfer

Ein Plädoyer für die Langeweile

Ein Plädoyer für die Langeweile

Lesezeit: 8 Minuten
Ausgabe 3/25 Langeweile

Arno Schäfer ist Bildungsreferent für Verbandsentwicklung und Jugendpolitik in der Bundeszentrale des Verbandes Christlicher Pfadfinder*innen (VCP e.V.) in Kassel und selbst seit 40 Jahren aktiver Pfadfinder im Bund der Pfadfinder*innen (BdP e.V.).

„Muss ich schon wieder machen, was ich will?“

Nicht ohne Stolz auf seine eigenen erzieherischen Leistungen in dem Bezug, machte sich mein Vater früher mit dem Satz „Die müssen wieder machen, was sie wollen“ über die Erziehung einiger meiner Freund:innen lustig, die er als vermeintlich überbehütete und unselbstständige ansah. Ich sah dagegen eher Eltern, die ständig großartige Dinge mit ihren Kindern unternahmen, die sich für ihre Kinder interessierten und einsetzten. Mit der Zeit wurde mein Blick darauf differenzierter und spätestens heute, mit zwei eigenen Kindern, kann ich der Perspektive meines Vaters etwas abgewinnen: 

  • Langeweile lehrt Kreativität, Selbstständigkeit und Eigenverantwortung.
  • Langeweile ist gesund.
  • Langeweile macht Neugierig auf Abenteuer.
  • Langeweile will gelernt sein.

Ich bin in einem kleinen Vorort von Koblenz aufwachsend und fast war nie allein mit meiner Langeweile. Schnell entstanden verrückte, zum Teil auch wirklich dumme Ideen aus meiner oder unserer Langeweile heraus. Allein, aber insbesondere auch in der Gruppe, wurden wir kreativ und suchten spannende Ausflüchte aus der Langeweile – immer erfolgreich, manchmal albern oder hin und wieder auch riskant. 

Langeweile öffnet Räume, die Kinder und Jugendliche für ihre ganzheitliche Entwicklung dringend benötigen und die gezielt in der Jugendverbandsarbeit genutzt werden

Dann kamen die Pfadfinder in mein Leben und Langweile wurde zur Methode und zum Quell ewig sprudelnder Ideen und Selbstwirksamkeitserfahrung.

Langeweile lehrt

Heute weiß ich, dass ich nicht vernachlässigt wurde und meine Eltern sehr viele tolle Dinge mit mir unternommen haben. Ich weiß heute, dass es auch ein Zuviel an Fürsorge und elterlich geplanten oder gar verordneten Unternehmungen geben kann. 

Ein solches Übermaß macht es einfach, Verantwortung und Lösung für Langeweile stets bei den Eltern zu suchen, anstatt sich selbst mit Kreativität der Langeweile entgegenzustellen. Der Mangel genau dieser Selbstwirksamkeitserfahrungen, die mit Selbstreflektion beginnt, über die Artikulation des Problems und der eigenen Bedürfnisse zu kreativen Lösungen führt, bleibt nicht ohne Folgen. Er verstärkt die Zuwendung zur digitalen Welt, in der dank Handys nie und nirgendwo Langeweile herrschen muss, in der man aber auch keinerlei echte Wirksamkeit erfahren kann und auch einen Teil seiner Selbstbestimmung beim Login abgibt.

Pfadfinderjurte unter dem Sternenhimmel

Schlafen unterm Sternenhimmel, Nächte am Feuer: Mit dem richtigen Maß kann Langeweile zu spirituellen Erfahrungen führen. (Foto: VCP e.V.)

Zum Anderen führt das Ausbleiben eigenverantwortlicher Initiative auch zum Erlernen eines Musters: „Verantwortung, die ich nicht übernehme, übernehmen andere für mich.“ Damit können dann auch genau diese verantwortlich gemacht werden – auch für meine ureigenste Langeweile. Ein fatales Zeichen.

Pfadfinden hat keinen vorgegebenen Lehrplan. Pfadfinden definiert zentrale Methoden und Arbeitsformen wie Lager und Fahrten, Gruppenstunden, Spiele und viele weitere, mit denen junge Menschen ganzheitlich in ihrer Persönlichkeitsentwicklung hin zu mündigen, engagierten und kritischen Bürgern gefördert werden. Im Umkehrschluss ist das Programm weitestgehend frei wähl- und durchführbar. Als Teil der Jugendbewegung ist es uns ein Anliegen, dass die Kinder und Jugendlichen ihr Programm selbst wählen, gestalten und durchführen können, dass sie Verantwortung übernehmen für ihr Programm und sich damit für ihre Interessen und Bedürfnisse einsetzen. Hier und da unterstützen natürlich die Älteren und Erwachsenen.

Die persönliche Erfahrung, Langeweile als Herausforderung zu begreifen und ihr mit kreativen Ideen zu begegnen, lehrt die Kinder und Jugendlichen, die Verantwortung bei sich selbst zu sehen, sie anzunehmen und etwas gegen ihre Langeweile zu unternehmen. Eine Erkenntnis, die im Leben auf sehr viele Bereiche übertragen werden kann. Im Pfadfinden führt diese Erfahrung von Eigenverantwortung letzten Endes zu einem attraktiven Programm, neuen Herausforderungen und letztlich zu gutem Pfadfinden im Sinne des VCP.

Jugendliche, die miteinander chillen

Jungen Menschen gelingt es oft gut, die richtige Balance zwischen Ruhe und Aktivität zu finden.  (Foto: VCP. e.V.)

Langeweile ist gesund

Als Vater eines pubertierenden Sohnes habe ich die Langeweile auch noch anders kennengelernt: Unklare Gefühle, vielfältige Freundschaften, Unmengen Informationen und Einflüsse, all das will gedeutet, sortiert, eingeordnet und letzten Endes verstanden sein. Ein passendes Maß an Langeweile schützt vor mentaler Überlastung und bietet den Ruheraum, sich all der Dinge, die passieren, bewusst zu werden und mental auf sie zu reagieren. Langeweile ist eine von vielen Säulen mentaler Gesundheit bei Kindern und Jugendlichen.

Ein zentraler Punkt von Pfadfinden ist die Gemeinschaft aus Freund:innen, in der Kinder und Jugendliche in unterschiedlichen Konstellationen und in altersgerechter Form Sozialkompetenzen und Verhaltensweisen erproben können. Selbstreflektion und die mentale Verarbeitung von sozialer Interaktion sind dabei von großer Bedeutung und sie brauchen Raum. Kinder und Jugendliche sollen die Fähigkeit entwickeln, selbstständig diesen Raum mit ihrer Langeweile zu schaffen und zu nutzen, sich in die Langeweile zurückziehen zu dürfen, um Eindrücke und Erfahrungen zu verarbeiten. Dann chillen sie im Schatten der Bäume und schauen einfach nur, was um sie herum passiert, oder einfach nur in den Himmel.

Pfadfinden wird in idealer Weise weitgehend von Jugendlichen für Kinder und Jugendliche gestaltet und es gelingt diesen jungen Menschen erstaunlich gut, die Balance zu halten zwischen Aktion und Ruhe, zwischen wilden Spielen und besinnlichen Abenden, zwischen Herausforderungen und Pausen. Sie erkennen den Bedarf, bevor Überlastung entsteht, sie ertragen das Nichtstun oft besser als es viele Erwachsene täten.

Langeweile macht neugierig auf Abenteuer

Kinder und Jugendliche sind auf der Suche nach ihrer Position und Rolle im Leben und in der Gesellschaft. Dabei gibt es für sie oft nichts Langweiligeres als die Realität.

Auf unseren Lagern lassen wir diese langweilige Realität hinter uns. Spannende Spielgeschichten, neue Herausforderungen, selbstgebastelte Kostüme und ein abwechslungsreiches Programm bieten den Pfadfinder:innen die Möglichkeit, mal jemand anderes zu sein und sich in fremden Rollen auszuprobieren. 

Jeden Sommer entfliehen unzählige Pfadfinder:innen der Langeweile des Alltags. Sie packen ihre Rucksäcke und tragen alles, was sie brauchen, mehrere Wochen über Kilometer durch fremde Länder. Sie gehen auf Großfahrt. Getrieben von der Sehnsucht nach fernen Ländern, spannenden Begegnungen und fremden Kulturen, erleben sie das Abenteuer ihres Lebens. Wo schlafen wir heute Abend? Wo wandern wir lang? Haben wir genug Wasser dabei? Wann können wir wieder einkaufen gehen? Bekommen wir alles getragen? Wie helfen wir uns gegenseitig und gemeinsam, alles
zu schaffen? 

Langeweile kann ein ständiger Begleiter sein, den man aushält und irgendwann genießen kann

Schlafen unterm Sternenhimmel, Nächte am Feuer und das Schweigen beim Wandern durch atemberaubende Landschaften wird mit dem richtigen Maß an Langeweile zu einer spirituellen Erfahrung. Es ist aber ebenfalls die Langeweile, die Sicherheit und Geborgenheit des Alltags, auf die sich viele Kinder und Jugendliche nach dem Abenteuer Großfahrt wieder freuen.

Langeweile will gelernt sein

Damit Langeweile gezielt wirken kann, muss sie gelernt werden. Es braucht Rolemodels, die vorleben, wie man Langeweile nutzen und kreativ füllen kann.

Das pädagogische Konzept der Ranger und Roverstufe im VCP (Jugendliche ab 16 Jahren) sieht explizit vor, dass sich die Ranger und Rover ihr Programm und ihre Themen aus den eigenen Bedürfnissen heraus selbst wählen, dass sie sich neue Herausforderungen selbstständig suchen und an ihnen wachsen. Damit sind sie attraktive Vorbilder für jüngere Kinder und Jugendliche und leben vor, mit Eigenverantwortung und Selbstständigkeit Langeweile zu begegnen, sie aber auch zuzulassen, auszuhalten und zu nutzen.

Letzten Endes ist es, wie fast immer im Leben, eine Frage der Dosis und der Perspektive. Langeweile gehört einfach zum Leben dazu und sie übernimmt wichtige, regulatorische Aufgaben in der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen. Langeweile ist fürs Pfadfinden von hoher Bedeutung. Als (Un-)Tätigkeit findet es im Pfadfinden ebenso statt, wie als Katalysator und Motivation für Eigenverantwortung und Engagement. Langeweile ermöglicht es jungen Menschen, selbstständig, eigenverantwortlich und nach ihren Bedürfnissen, Pfadfinden als Teil ihres Lebens auszugestalten.

Kinder sitzen um eine Schubkarre herum

Kinder dürfen bei den Pfadfindern schon früh das Programm mit bestimmen. (Foto: VCP e.V.)

Fazit: Langeweile ist nicht gleich Zeitverschwendung – Raum für Erwachsene im Pfadfinder

Langeweile ist also nicht automatisch Zeitverschwendung, sondern kann Ausgangspunkt für etwas Kreatives oder Produktives sein, Langeweile kann aber auch ein wichtiger Moment des Innehaltens, Reflektierens und des Ausruhens sein. Durch Social Media swipen, mit Faschisten über Demokratie diskutieren, der Nachbarskatze die örtlichen Eigentumsverhältnisse erläutern. Manchmal – nein, viel zu oft – macht man aber tatsächlich Dinge, die nichts verändern, die nichts bewirken. Zeitverschwendung. Wie wäre es stattdessen mit etwas Langeweile?

Für einige Erwachsene, wie für erfahrene Pfadfinder, mag es keine große Herausforderung mehr sein, sich im Pfadfinden zu engagieren. Viele Erfahrungen hat man, vielleicht auch im Berufsleben oder dem Familienmanagement, machen können. Und trotzdem bietet Engagement im Pfadfinden immer wieder neue und sehr vielfältige Erfahrungen, die als lebenslanges Lernen auch Erwachsenen und Quereinsteigenden zugutekommen können.

Zeit in ein Engagement bei den Pfadfinder:innen zu stecken ist auch für Erwachsene keineswegs verschwendete Zeit, es ist selbst dann die produktivste Langeweile: Kindern und Jugendlichen eigene Erfahrungsräume zu schaffen, Räume, in denen sie „tun müssen, was sie wollen“, das verändert die Welt! Sie auf dem Weg zu aktiven und mündigen Bürgern zu begleiten, stärkt unsere Zivilgesellschaft und unsere Demokratie. Es macht die Welt zu einem besseren Ort.

Der VCP ist ein wachsender Verband. Wir suchen in Gemeinden und Zivilgesellschaft Erwachsene und Quereinsteiger:innen und bieten Möglichkeiten, sich im VCP zu engagieren. Dort, wo es keine VCP Gruppe gibt, begleiten wir Quereinsteigende dabei, Pfadfindergruppen zu gründen. Aber egal, wie man sich engagiert, im VCP wird es auch den Erwachsenen eigentlich nie langweilen – das ist ein Versprechen und keine Drohung!


Du hast Interesse am Thema „Langeweile“?
Du findest weitere Artikel dazu in der Ausgabe 3/25 Langeweile
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Titelbild: Im Sommer auf große Fahrt zu gehen, nicht zu wissen, wo man abends schläft: Das ist das ultimative Abenteuer. (Foto: VCP e.V.)

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