Auf die Klammer kommt es an
Thomas Zeilinger

Auf die Klammer kommt es an

Auf die Klammer kommt es an

Anstand im Netz – Gemeinschaft und (digitale) Ethik

Einleitung

Sowohl das Internet wie die sozialen Medien starteten mit großen Versprechen: Die Idee einer weltumspannenden Kommunikation von Person zu Person, die direkte Beteiligung jedes und jeder Einzelnen am politischen Prozess, gleicher Zugang zu Information wie solidarische Verbundenheit miteinander – gerade auch in ethischer Perspektive schien der digitale Wandel der Kommunikation ungeheure Potentiale zu bergen. Vor zehn Jahren verdichtete sich die Hoffnung darauf für viele Menschen im sog. arabischen Frühling. Die damalige Hoffnung ist seitdem einer großen Ernüchterung gewichen. Hassrede und Shitstorm im Netz, aber auch die Einflussmöglichkeiten von privaten Plattformbetreibern wie staatlichen Zensurinstanzen lassen die „ungeheuren“ Potentiale der Digitalisierung in einem anderen Licht erscheinen.

Ganz offensichtlich bewegen digitale (Kommunikations-)Technologien Gesellschaften nicht von sich aus in eine ethisch positiv zu bewertende Richtung. Auch wenn aktuell viele Menschen meinen, dass eher das Gegenteil der Fall sei, gilt jedoch auch umgekehrt: Die Technologien des digitalen Wandels sind ethisch weder in positiver, noch in negativer Richtung ein Selbstläufer. Vielmehr kommt es entscheidend auf die Klammer(n) an: auf die Art und Weise, in der die digitalen Kommunikationswege gesellschaftlich wie individuell genutzt werden. Im Folgenden sollen hierfür die drei im Titel dieses Beitrags verborgenen Klammern beschrieben werden: Der Zusammenhang von Ethik und Gemeinschaft, die Klammer zwischen „analogem“ und „digitalem“ Leben, sowie die notwendige Klammer der Ethik um das Digitale: die Kultivierung des digitalen Raumes.

Gemeinschaft und Ethik

Mit der digitalen Medienrevolution verschiebt sich der Fokus der Verantwortung: Konnte man früher darauf setzen, dass sich professionelle Expert*innen für die Qualität der Information verantwortlich zeichneten, liegt dies im Zeitalter sozialer Netze und Medien wesentlich in den Händen der Nutzer*innen. Galt also das Augenmerk im massenmedialen Zeitalter vor allem der (berufs-)ethischen Qualifizierung von Journalist*innen, so rückt in der digitalen Ethik die Frage nach der Qualifizierung der Nutzer*innen in den Vordergrund: allerorten stellt sich die Frage nach der Medienkompetenz. Dabei handelt es sich zunächst um eine individualethische Aufgabe für jede*n Einzelne*n: „Was soll ich tun?“ – „Woran orientiere ich mein Handeln (im Netz)?“ Ihre Antwort findet sie allerdings nie mit dem isolierten Individuum, sondern immer im sozialen Raum der Gemeinschaft.

Diese Klammer zwischen individueller Ethik und Gemeinschaft wird besonders an einer – wenn nicht überhaupt der – bedeutendsten Handlungsmaxime deutlich: der Goldenen Regel. „Was Du nicht willst, dass man Dir tu, das füg’ auch keinem andern zu.“ Ob in dieser negativen Formulierung, ob positiv oder im Detail noch einmal abgewandelt: In verschiedensten Religionen und Kulturen besitzt die Goldene Regel Prominenz und reflektiert die Annahme einer unterstellten reziproken Menschenwürde: Das andere Ich zu sehen, dem ich das schulde, was ich für mich selbst beanspruche. Das eigene Handeln reflektiert sich immer im Spiegel der Anderen. Im Zeitalter des munteren Wechsels zwischen der Rolle des Medienproduzenten und -konsumenten in Sozialen Medien und auf dem Smartphone verspricht die „Goldene Regel“, besonders gut nachvollziehbar und plausibel zu sein, da die Rollen von „Ich“ und „Du“ von Post zu Post rasch umschlagen bzw. von Link zu Link fließend wechseln können.

Praktisch lässt sich die „Goldene Regel“ vielfach auf netzethische Themen anwenden. Sie verdeutlicht den sozialen Horizont, vor dem sich individuelle Tugenden stets verantworten müssen. Für konkrete Entscheidungssituationen (wie z.B. die Frage, ob ich einen coolen Videoclip auf meinem Account teilen soll) empfehlen sich in einer so verstandenen tugendethischen Perspektive die folgenden drei Fragen. Sie binden die ethische Perspektive des Handelns („Was soll ich tun?)“ an die Frage der eigenen Identität („Wer bin ich? / Wer will ich sein?“) zurück und machen deutlich, dass die Frage des eigenen Verhaltens im Netz immer mit der Person selbst im reflexiven Horizont der Gemeinschaft zu tun hat:

  • Der Spiegeltest: „Kann ich nach meiner Entscheidung noch guten Gewissens in den Spiegel schauen?“
  • Der Öffentlichkeitstest: „Kann ich mit meiner Entscheidung, mit meinem Post, an die Öffentlichkeit gehen?“
  • Der Vier-Augen-Test: „Kann ich mit meiner Entscheidung meinem Chef bzw. meiner Freundin gegenübertreten?“

Die erste Klammer für die Ethik in digitalen Zeiten ist also prinzipiell keine andere als die, die Jesus von Nazareth mit der jüdischen Tradition wie vielen anderen Religionen in einem Ethos der Reziprozität gefunden hat: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie Dich selbst.“ Der Respekt für das Gegenüber hat immer mit dem Respekt für sich selbst zu tun – und umgekehrt.

Analog und Digital

Aber gelten in der digitalen Welt nicht doch ganz andere Gesetze als in der analogen? Was helfen die tradierten Werte der Religionen, wenn technische Systeme Entscheidungen treffen, denen der oder die Einzelne ohnmächtig ausgeliefert ist? Braucht es da nicht eine eigene Ethik für das Digitale?

In der Tat sind Entwicklungen zu konstatieren, die solche Fragen nahelegen: Die digitale Welt ist durch Beschleunigungs- und Miniaturisierungsprozesse gekennzeichnet, die uns Sensoren wie Aktuatoren immer näher an den Leib oder gar unter die Haut bringen. Datenmengen und Informationsfülle werden immer größer. Und algorithmische Rechenoperationen, deren Zusammenhänge, wenn überhaupt nur von wenigen noch durchschaubar sind, bestimmen immer mehr Prozesse in der Freizeit wie im Arbeitsleben.

Respekt für das Gegenüber hat immer mit Respekt für sich selbst zu tun

Auch hier gibt es freilich eine Klammer zwischen der Welt alter analoger und neuer digitaler Prozesse: Diese Klammer ist die Machtfrage, sozialethisch gewendet die Frage nach dem Maßstab, dem gegenüber sich der Einsatz digitaler Technologien verantworten muss. In jüdisch-christlicher wie weithin auch in philosophischer Perspektive ist die Gerechtigkeit dieser Maßstab, der sich an der Verantwortung für die Schwachen und Benachteiligten besonders zu bewähren hat („Option für die Armen“, „Paretooptimalität“).

Deshalb ist die demokratische Regulierung und Gestaltung der Digitalisierung sozialethisch so wichtig: Machtasymmetrien sind durch gesetzliche Regelungen abzubauen, Plattformen und Konzerne sind dabei zu behaften, dass sie ihre Verantwortung wahrnehmen müssen und sich nicht darauf herausreden können, dass sie ja nur einen neutralen Raum zur Verfügung stellen, den Nutzer*innen mit ihren Beiträgen füllen. Längst ist analysiert, dass sie mit ihrer Marktmacht für politische und soziale Prozesse eine Mitverantwortung tragen, der sie bisher nur höchst ungenügend gerecht geworden sind. 

Es wäre politisch naiv, hier anzunehmen, dass die ethischen Postulate von Transparenz und Vorurteilsfreiheit, von Zuverlässigkeit und Inklusion einfach von selbst gelebt werden. Vielmehr braucht es neben den im ersten Abschnitt postulierten individuellen Tugenden in sozialethischer Hinsicht ebenso dringend eine normierende Gestaltung. Seit der Datenschutzgrundverordnung 2017 ist es vor allem die Europäische Union, die es – wie wenig befriedigend manches Detail dabei auch sein mag – hier unternimmt, Regeln für den digitalen Markt und die digitalen Dienste zu entwickeln, die die Rechte der Bürger*innen auch in digitalen Zeiten zu stärken suchen.1

Kultur und Gestaltung des Digitalen

Die tugendethische Klammer zwischen Individuum und Gemeinschaft wie die sozialethische Klammer der Gerechtigkeit als Maßstab in der politischen Sphäre der Macht brauchen ihrerseits allerdings eine weitere Klammer: Diese Klammer sitzt dort, wo auch die evangelische Jugendarbeit ihren Ort hat: bei der Einübung und Bildung, beim Miteinander Gestalten. Eine digitale Ethik wird weder von der einzelnen Nutzerin noch von gesetzlichen Vorschriften allein vorangebracht. Was es an zentraler Stelle braucht, ist die Klammer der gemeinsamen Kultivierung des digitalen Raumes. Diese gemeinsame Arbeit muss eingeübt und will gestaltet sein. Dafür braucht es kreative Impulse für den zivilgesellschaftlichen Diskurs. Nur so wird die Klammer der Ethik um das Digitale im Sinne eines digitalen Ethos lebendig. Der Beitrag der Kirchen, der Jugendarbeit und Jugendbildung könnte dabei in dreierlei bestehen:

Ethische Instruktion auf dem Weg der Anschauung

Kirchliche Jugendarbeit hat sich schon immer dadurch ausgezeichnet, dass sie Räume gemeinsamer kreativer Gestaltung eröffnet hat. Diese „Qualität“ bietet auch Chancen dafür, der Entwicklung einer digitalen Ethik Impulse zu geben. An anderer Stelle habe ich dafür plädiert, einen solchen „Weg der Anschauung“ zu nutzen, um auf präsentativem und nicht nur auf diskursivem Weg einen kirchlichen Beitrag zur ethischen Bildung der künftigen digitalen Gesellschaft zu bieten.2

Exemplarisch für solche Beiträge stehen in meiner Sicht die 2020 und 2021 veranstalteten Hackathons der Initiative „glaubengemeinsam“.3 Die – laut Selbstbeschreibung – „Runde von jungen ehrenamtlich engagierten Christ:innen, die eine Plattform anbieten auf der ‚einfach mal gemacht und gedacht werden kann‘“, hat mit den beiden Hackathons zwar zunächst den kirchlichen Raum adressiert. Implizit tragen die dort entstandenen Ideen und Projekte dazu bei, ethische Aspekte in der Gestaltung des digitalen Raumes zur Geltung und christliche Überzeugungen im Netz zur Anschauung zu bringen. Auf diesem Weg werden auch Imagination und Präsentation für die Ethik zu wichtigen Wegen, eine digitale Kultur auch ethisch zu verantworten und zu gestalten. Werte und Überzeugungen finden so ihren Platz nicht in der theoretischen Behauptung, sondern in der Anschauung, d.h. der praktischen Bewährung im Gestalten digitaler Plattformen und Entwicklungen.

Befähigung zum Perspektivenwechsel

Ein wesentlicher inhaltlicher Impuls dieser ethischen Gestaltung des Digitalen liegt darin, die eigene Wahrnehmung auch von anderen Perspektiven bereichern zu lassen. Dass hier ein wesentlicher und notwendiger Lernschritt bei einer ethischen Klammer um die Phänomene der Digitalisierung liegt, haben in den vergangenen Jahren viele Erfahrungen gerade in und mit sozialen Netzwerken gezeigt: Die ökonomische Logik der Aufmerksamkeitsbindung schlägt sich in Algorithmen nieder, die immer mehr vom Gleichen zeigen. 

Die eigene Meinung wird im Kreise Gleichgesinnter bestätigt und abweichende Meinungen erst gar nicht zur Kenntnis genommen. Eli Pariser hat bereits vor zehn Jahren mit dem Begriff der „Filterblase“ auf diese Problematik aufmerksam gemacht.4

Die eigene Meinung wird im Kreise Gleichgesinnter bestätigt

Dass gerade die kirchliche Jugendarbeit an dieser Stelle eine Tradition bietet, die den Wert von Diversität und Verschiedenheit einübt und lebt, belegen immer wieder exemplarische Äußerungen wie die folgende: „Die Gemeinschaft hier ist etwas ganz Besonderes, weil hier so viele verschiedene Charaktere zusammenkommen, die sich sonst wahrscheinlich gar nicht unbedingt begegnet wären.“ (Äußerung einer Jugendleiterin, Gnadenkirche Fürstenfeldbruck, vimeo.com/557114660/091e8658e7)

Es scheint mir gerade diese Tradition, die es wert ist, auch in digitalen Kontexten praktiziert und realisiert zu werden: Die produktive Kraft des Wechsels der Perspektiven und die Fähigkeit, die Dinge aus mehreren Blickwinkeln zu betrachten.

Pädagogische Arbeit an digitalen Kompetenzen

Bei all dem geht es darum, zur Bildung digitaler Kompetenz beizutragen. Egal ob hier von Medien- oder von Digitalkompetenz gesprochen wird: die nötigen individuellen Kompetenzen bilden sich nur in einem Raum gemeinsamer Verständigung und vor allem gemeinsamer Praxis. Die Jugendarbeit bietet ihn – und sie kann und muss ihn in die digitalen Kontexte erweitern. Ein Beispiel hierfür sind die Bemühungen des Studienzentrums Josefstal, für den Bereich kirchlicher Jugendarbeiter*innen zu schauen, welche Fähigkeiten sie brauchen, wenn sie mit Jugendlichen im digitalen Lebensraum in Kontakt bleiben wollen. Gemeinsam mit der aej hat das Studienzentrum zu Beginn des Jahres eine Umfrage veröffentlicht, welche digitalen Kompetenzen nach Ansicht der Mitarbeitenden in der Jugendarbeit vonnnöten sind.5 Und in Aufnahme europäischer Überlegungen zur Frage der nötigen digitalen Kompetenzen von Bürger*innen6 arbeiten die aej und Josefstal aktuell an einem Curriculum digitaler Kompetenzen für Mitarbeitende in der kirchlichen Jugendarbeit und darüber hinaus.7

Das Digitale in die (richtigen) Klammern setzen

Ob mit den eben geschilderten Initiativen aus dem Bereich der kirchlichen Jugend- und Bildungsarbeit und der so mit der notwendigen Kultivierung des Digitalen skizzierten Klammer der Ethik um das Digitale oder mit den zuvor beschriebenen sozial- wie individualethischen Aufgaben: Stets kommt es auf die Klammer an, sprich auf die Art und Weise, wie die Nutzung der neuen technologischen Realitäten gestaltet wird. Gefragt ist hier die Freiheit, sich nicht im Glanz leuchtender Oberflächen zu verlieren und das eigene Selbst an das strahlende Selfie-Porträt auszuliefern, sondern die eigene Souveränität gegenüber der Technik zu behaupten. Angesichts der Bannkraft digitaler Medien und Technologien ist das wahrlich keine einfache Aufgabe. Und dennoch: Wer wäre besser als die von der Botschaft der christlichen Freiheit begeisterte Jugendarbeit dafür gerüstet, den digitalen Raum zu vermessen, sprich: ihn mit den passenden Klammern zu versehen und mensch- und umweltgerecht zu kultivieren?   

Dr. Thomas Zeilinger ist außerplanmäßiger Professor für Christliche Publizistik der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Der evangelische Theologe ist der Beauftragte der Evang.-Luth. Kirche in Bayern für Ethik im Dialog mit Technologie und Naturwissenschaft.

Du hast Interesse am Thema „Digitalisierung“?
Du findest weitere Artikel dazu in der Ausgabe 3/21 Digitale Welten in der Jugendarbeit.

Titelbild: Symbolbild Digitalisierung (Adobe Stock)

Literatur

  • 1 Digital Services Act und Digital Markets Act, 2020f.
  • 2 Der Weg der Anschauung. Ethische Bildung in der medial geprägten Zivilgesellschaft; S.299–309 in: Medien- und Zivilgesellschaft, hrsg. v. A. Filipovic/ M. Jäckel/ C. Schicha, Weinheim: Beltz-Juventa 2012
  • 3 www.glaubengemeinsam.de
  • 4 The Filter Bubble. What the Internet Is Hiding from You, London 2011
  • 5 josefstal.de/wp-content/uploads/2021/02/2021_02_Zusammenfassung_Online-Umfrage.pdf
  • 6 ec.europa.eu/jrc/en/digcompedu
  • 7 josefstal.de/digitale-kompetenzen-sonntagsblatt/

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