Jugendseelsorge im Chatformat

#schreibenstattschweigen
Seit Mai 2020 bietet die Junge Nordkirche, das Zentrum für die Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, jungen Menschen zwischen 14 und 27 Jahren die Möglichkeit, sich auf digitalem Wege beraten und seelsorglich begleiten zu lassen. Mit dem jugendseelsorglichen Chat-Angebot www.schreibenstattschweigen.de übernimmt die Junge Nordkirche Verantwortung für die Lebens- und Krisenbegleitung junger Menschen und schließt praktisch eine Lücke in ihrem Angebotsspektrum, das neben der Qualifizierung für Schul- und Jugendseelsorge1, dem Aufbau und der Pflege eines landeskirchenweiten Netzwerks an Schulseelsorger*innen auch das Engagement für die Festivalseelsorge umfasst.
Corona und die psychische Gesundheit junger Menschen
Anlass, mit diesem jugendgemäßen Angebot online zu gehen, war 2020 die Coronapandemie und der für Jugendliche gravierend veränderte Alltag mit seinen Kontaktbeschränkungen, Homeschooling und dem Wegfall von Freizeitangeboten. Kinder und Jugendliche waren auf besondere Weise herausgefordert, ihren Lebensalltag zu bewältigen. Erste Ergebnisse der im April 2020 veröffentlichten repräsentativen „JuCo“- Studie2 zeigten rasch, dass die persönliche Situation junger Menschen trotz guter sozialer Beziehungen und Kontakte oft von Einsamkeitsgefühlen, Verunsicherung und Überforderung gekennzeichnet war. Rückblickend lässt sich zusammenfassen, dass insbesondere Jugendliche aus ökonomisch benachteiligten, mit weniger materiellen und kulturellen Ressourcen ausgestatteten Familien durch die Restriktionen der Pandemie erheblichen psychosozialen Belastungen ausgesetzt waren. Dass es hingegen allgemein um die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen auch heute noch deutlich schlechter bestellt zu sein scheint als vor der Pandemie, deuten unter anderem die Ergebnisse der sechsten und siebten Befragungsrunde der COPSY-Studie (COrona und PSYche) des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) an.3 Hatte sich das psychische Wohlbefinden junger Menschen nach der Pandemie zunächst verbessert, setzte sich dieser Verlauf zum Herbst 2024 nicht weiter fort: etwa fünf Prozent mehr Kinder und Jugendliche schätzten ihre psychische Gesundheit schlechter ein als vor der Pandemie. 21 Prozent der jungen Menschen berichten von einer anhaltenden Beeinträchtigung der Lebensqualität, 22 Prozent leiden weiterhin unter psychischen Auffälligkeiten. Vor allem die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten, wirtschaftliche Unsicherheiten und der Klimawandel bereiten den Kindern und Jugendlichen Sorgen.
Optimistische Kinder sind besser geschützt, als ängstliche Kinder
„Unsere COPSY-Studie zeigt eine signifikante Verschlechterung der psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen zu Beginn der Pandemie und eine langsame Verbesserung in den Folgejahren. Doch jetzt stellen wir fest, dass diese Zahlen stagnieren und im Vergleich zu präpandemischen Daten immer noch hoch sind. Inzwischen wird das Wohlbefinden nicht mehr durch die Corona-Pandemie beeinträchtigt. Jetzt beeinflussen Ängste, insbesondere im Zusammenhang mit globalen Konflikten und der Klimakrise, die Lebensqualität und das Wohlbefinden. Wir konnten feststellen, dass Risikofaktoren wie sozioökonomische Benachteiligung die Wahrscheinlichkeit für psychische Probleme erhöhen, während Kinder und Jugendliche, die optimistisch und zuversichtlich in die Zukunft schauen und sich von ihrem sozialen Umfeld gut unterstützt fühlen, besser geschützt sind“.4
Seelsorge als eine Kernkompetenz von Kirche
Seelsorge fällt in den Kernaufgaben und -kompetenzbereich von Kirche. Besteht ihre Aufgabe darin, Hilfe zur Lebensgestaltung und religiös-ethische Lebensbegleitung5 anzubieten, kommt gerade in Krisenzeiten der Zusage von Lebensgewissheit, der Ermutigung zum Leben6, besondere Bedeutung zu.
Will man dennoch oder erst recht Jugendlichen ein ihrem Alter und ihren Kommunikationspraktiken gemäßes, niedrigschwelliges seelsorgliches Angebot offerieren und nimmt man die Ergebnisse der Studien zur Entwicklung der Mediennutzung ernst, ist die Kommunikation im digitalen Raum inzwischen fester Bestandteil der Alltagskommunikation geworden. Fast 90 Prozent der Jugendlichen nutzen täglich das Internet für ihre Freizeitbeschäftigung7. Das tägliche Chatten über Messengerdienste ist allgemein verbreitet. 2023 waren Jugendliche durchschnittlich knapp vier Stunden täglich online. WhatsApp wird von 94 Prozent regelmäßig genutzt.8 Die Nutzung von Smartphones ermöglicht und erleichtert daher auch die spontane Kontaktaufnahme zu Jugendseelsorgenden mithilfe weniger Klicks.
Die Ratsuchende Person bleibt stets souverän – sie ist Kapitän:in. Die steuernd begleitende Person hat eine Lots:innen-Funktion.
Mit „Schreiben statt Schweigen“ hat die Junge Nordkirche ein niedrigschwelliges und anonymes Seelsorge- und Beratungsangebot für junge Menschen9 geschaffen, das sie bei der Bewältigung persönlicher Krisen qualifiziert unterstützt. Ziel dieses Angebots ist es, Jugendlichen in schwierigen Lebenslagen die ihnen gebührende Aufmerksamkeit zu geben, sich im Dialog mit ihnen auf ihre Themen einzulassen, sich mit ihnen und ihren (Alltags-) Problemen und ihren Konflikten zu identifizieren und ihnen emotionale Resonanz zu geben. Soweit möglich sollen die notwendigen psychischen, sozialen, materiellen, kulturellen und religiösen Ressourcen zur Bewältigung einer Krise erkundet und die Selbstaktivierung bei der Suche nach einer Lösung angeregt werden. Als theoretische Grundlage unseres Ansatzes dienen u.a. die Grundannahmen der systemischen Beratung und Seelsorge.10
Der seelsorgliche Chatdialog
Insbesondere die Methode des seelsorglichen Kurzgesprächs – nach den Standards der Arbeitsgemeinschaft Kurzgespräch (AgK) – als systemischer Ansatz der Gesprächsführung, die eigentlich für spontane „Tür- und Angel“- Situationen entwickelt wurde, bot für unsere Zwecke hilfreiche Anregungen und methodische Zugänge.
Gespräche im Chat werden als gesteuerte Gespräche geführt, die einmalig stattfinden, in sich abgeschlossen und nicht in einen Beratungsprozess eingebettet sind. Sie können unterschiedlich lange dauern. In dem Chatdialog wird auf das Anliegen einer ratsuchenden Person angemessen reagiert, Resonanz gegeben und Fragen so gestellt, dass die Selbsterkundung der Besuchenden angeregt wird. Anknüpfend an die Sprache des Gegenübers führt diese zukunfts- und lösungsorientierte Methode zu Gesprächsverläufen, die in der Regel als hilfreich erlebt werden. Sie kann anfragenden Personen Wege aus einem Dilemma aufzeigen, ihre Selbstorganisation reaktivieren und Hoffnung stiften, indem sie Ressourcen aufgreifen hilft und sich in Richtung einer Problemlösung in kleinen Schritten orientiert.
Gleichzeitig ermöglicht sie einen Per-spektivwechsel und verschafft oft eine spürbare Entlastung. Grundlegend ist das Vertrauen, dass auch in einmaligen Gesprächen Intensität und Tiefe erlangt und Lösungsansätze gefunden werden können, und dass Veränderung durch hilfreiche Impulse auch in einmaligen in sich abgeschlossenen Gesprächen ermöglicht werden kann. Gleichzeitig wird eine Begegnung „auf Augenhöhe“ angestrebt. Durch präzises Anknüpfen an die Wortwahl der ratsuchenden Person bei der Formulierung hilfreicher Fragen wird ein Ausgleich der im Beratungsgespräch oftmals angelegten asymmetrischen Kommunikation angesteuert. Die ratsuchende Person bleibt souverän „Kapitän:in“ der Problemlösung, die beratende Person ist steuernde Begleitung mit „Lots:innenfunktion“. Wie allgemein in systemischen Beratungsverfahren ist deshalb auch hier die Ziel-, Zukunfts- und Ressourcenorientierung grundlegend.
Die Hoffnung auf Veränderung kann schon etwas bewirken.
Auf eine Anfrage wird methodisch so eingegangen, dass „Kraftquellen“ und Ressourcen (re-)aktiviert werden, die Ratsuchende mitbringen und mit deren Hilfe sie bereits in anderen schwierigen Situationen Lebenswege meistern konnten. Kontakt zu diesen – oft verschütteten – Ressourcen wieder herzustellen, ist gleichermaßen Weg und Ziel des Chatdialogs. Der Blick wird zukunftsorientiert auf die Bewältigung einer Problemlage gerichtet, Defizite rücken so weit wie möglich in den Hintergrund. Dadurch werden Besucher:innen in ihrer Eigenständigkeit gefördert. Es wird eher darauf verzichtet, „Probleme“ in ihrer Komplexität verstehen oder analysieren zu wollen oder sie zu vertiefen. Dafür sind weder das zeitliche noch das räumliche Setting des einmaligen Chatgesprächs geeignet. Hingegen ist die Überzeugung leitend, dass sich persönliche Veränderung in kleinen Schritten vollziehen kann. Oftmals gibt bereits die Hoffnung, dass Veränderung möglich ist, die erforderliche Motivation, einen ersten Schritt in Richtung Veränderung zu wagen. Häufig bewirkt die Veränderung der Sichtweise eine benennbare Reduktion des Leidensdrucks.
Ehrenamtlichkeit in der Seelsorge
Zurzeit wird „Schreiben statt Schweigen“ von einem Team haupt- und ehrenamtlicher Mitarbeiter:innen mit langjähriger Erfahrung und Qualifizierung in Beratung und seelsorglicher Begleitung11 junger Menschen getragen. Derzeit werden Dienste überwiegend zu zweit besetzt, auch um die Möglichkeit zur kollegialen Unterstützung per Videokonferenz zu bieten.
Die besonderen Bedarfe und Kompetenzen, die Beratung und Seelsorge im digitalen Raum erfordern, werden in kompakten Einführungskursen geschult.12 Fortbildungen zu ausgewählten Beratungsthemen, die Nutzer:innen der Chat-Seelsorge nicht selten unverblümt ansprechen, werden begleitend als digitale Inhouse-Schulungen organisiert.13 Das Angebot regelmäßiger Intervision und Supervision ist Bestandteil des Fortbildungskonzepts und dient der Qualitätssicherung. Voraussetzung zur Mitarbeit ist die Zustimmung zu einer Vereinbarung, die u.A. Fragen des Datenschutzes, der Schweigepflicht, der verpflichtenden Fortbildungen und der regelmäßigen Teilnahme an Super- und Intervision verbindlich regelt.
„Schreiben statt Schweigen“ erhält über die Grenzen der Nordkirche hinaus Aufmerksamkeit und wird durch die Ev.-Luth. Landeskirche Hannover, die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau und die Diakonie Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz e.V. mit ihrem Angebot vertraudich.online unterstützt.
Die Chat-Seelsorge ist direkt über die Homepage der Jungen Nordkirche zu erreichen.14 Zurzeit steht sie montags bis donnerstags von 18 bis 20 Uhr zur Verfügung unter www.schreibenstattschweigen.de
Dr. Katrin Meuche ist für Beratung und Seelsorge mit Schwerpunkt Schul- und Jugendseelsorge im Zentrum für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland zuständig.
Du hast Interesse am Thema „Resilienz“?
Du findest weitere Artikel dazu in der Ausgabe 2/25 Resilienz
Titelbild: Jugendliche können über das eigene Endgerät Hilfe bekommen. (Foto: Arnica Mühlendyck)
Literatur
- 1 Mit der Weiterbildung „Schulseelsorge“ qualifiziert die Junge Nordkirche in Kooperation mit dem Pädagogisch-Theologischen Institut der Nordkirche seit 2010 Religionslehrkräfte, Pastor*innen und Gemeindepädagog*innen für die seelsorgliche Tätigkeit im Handlungsfeld Schule.
- 2 Andresen, Sabine u.a. (2020): Erfahrungen und Perspektiven von jungen Menschen während der Corona-Maßnahmen. „JuCo“-Studie der Universitäten Frankfurt und Hildesheim. www.uni-hildesheim.de/neuigkeiten/wie-erleben-jugendliche-die-corona-krise-ergebnisse-der-bundesweiten-studie-juco/
- 3www.uke.de/kliniken-institute/kliniken/kinder-und-jugendpsychiatrie-psychotherapie-und-psychosomatik/forschung/arbeitsgruppen/child-public-health/forschung/copsy-studie.html (Zugriff am 06.03.2025)
- 4 COPSY-Studie (COrona und PSYche) des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf www.uke.de/allgemein/presse/pressemitteilungen/detailseite_160448.html (zugriff 06.03.2025)
- 5 Gutmann, Hans-Martin; Kuhlmann, Birgit; Meuche, Katrin (2014): Praxisbuch Schulseelsorge. Göttingen
- 6 Günther, Matthias (2018): Jugendseelsorge. Göttingen
- 7 Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (Hg.) (2019): JIM-Studie 2019. Jugend, Information, Medien. Stuttgart
- 8 Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest (2023): JIM-Studie 2023. Jugend, Information, Medien. Stuttgart
- 9 Selbstverständlich ist die Chatseelsorge auch offen für Menschen, die älter sind als 27, oder von außerhalb der Nordkirche Kontakt aufnehmen.
- 10 Morgenthaler, Christoph (20196): Systemische Seelsorge. Stuttgart
- 11 u.a. in der Methode des seelsorglichen Kurzgesprächs n. Lohse, Timm (2013): Das Kurzgespräch in Seelsorge und Beratung. Göttingen und Möhring, Britta; Schlüter, Thomas (2019): „Kann ich Sie mal kurz sprechen?“: Impulse für gute Gespräche in der Schule. Göttingen
- 12 Knatz, Birgit (2013): Handbuch Internetseelsorge. Grundlagen, Formen, Praxis. Gütersloh und Knatz, Birgit, Schumacher, Stefan (2019): Mediale Dialogkompetenz: Umgang mit schwierigen Gesprächssituationen am Telefon und im Chat. Berlin
- 13 Recherchen im Vorfeld haben ergeben, dass in der Chat-Seelsorge die Themen Suizidalität, sexuelle Grenzverletzungen, Gewalterfahrungen und damit verbundene Traumata häufiger als in der face-to-face-Beratung thematisiert werden.
- 14 Die technische Umsetzung erfolgte über eine für Messengerdienste geeignete Software, die den Datenschutzbedingungen der Nordkirche entspricht.
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