Gesellschaftlicher Dienst mit oder ohne Uniform
Ein Gespräch mit Rainer Hub, zuständig für den Bereich Freiwilliges soziales Engagement und Freiwilligendienste bei der Diakonie Deutschland
baugerüst: Was ist Ihre Aufgabe bei der Diakonie Deutschland und seit wann machen Sie das?
Hub: Ich bin seit fast 20 Jahren beim Diakoniebundesverband. Meine Aufgabe hat sich in dieser Zeit gewandelt, hatte aber immer mit dem Themenbereich „Engagement“ zu tun. Als ich die Funktion angetreten habe, gab es den Wehr- und damit auch den Zivildienst noch. Nach der Aussetzung des Wehrdienstes wurde das Thema „Freiwilligendienste“ intensiviert – aus einem kleinen „Nischenprogramm“ wurde ein breites Flächenprogramm mit deutlich mehr Mitteln und Akteuren.
baugerüst: Thema dieses Heftes ist Friedens(t)räume. Trotzdem werde ich Sie fragen, was Sie von der Wehrpflicht halten. Widerspricht sich das für Sie?
Hub: Nein, das widerspricht sich auf keinen Fall. Wichtig ist hier die Differenzierung zwischen Wehrdienst und Wehrpflicht.
baugerüst: Die Union spricht sich deutlich für eine Wiedereinführung der Wehrpflicht aus, und auch für die Einführung eines verpflichtenden Gesellschaftsjahres. Was sagen Sie dazu?
Hub: Die Grundhaltung der Diakonie ist, dass sie sich zu Sicherungs- und Verteidigungsfragen nicht äußert. Inwieweit das unser Thema wird, hängt sehr damit zusammen, wie der Charakter der Pflicht in einem von Verteidigungsminister Pistorius präferierten Modell ausgeprägt ist. (Anm. d. Red. siehe Infokasten) Denn: Je mehr eine potenzielle Wehrpflicht eine umfassende Pflicht ist, desto mehr tritt die „Kriegsdienstverweigerung“ in den Vordergrund und dann kommen wir als Diakonie und viele Weitere ins Spiel. Wir vermuten jedoch, dass das einzige, verpflichtende Element im zukünftigen Wehrdienst ein auszufüllender Fragebogen für Männer sein wird. Und dann ist das Thema (zunächst) nicht „so“ aktuell für uns, da der Grundgesetzartikel 4, Absatz 3, das Recht auf Kriegsdienstverweigerung, nicht direkt angegriffen wird.
Anmerkung der Redaktion: Am Tag nach dem Interview hat Verteidigungsminister Boris Pistorius seine Pläne für ein neues Dienstmodell vorgestellt. Alle 18-jährigen Männer sol- len zukünftig einen Musterungsfragebogen ausfüllen müssen, in dem nach der grundsätzlichen Bereitschaft zum Dienst an der Waffe gefragt werden soll. Mehr unter https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/bun- deswehr-pistorius-wehrdienst-100.html
baugerüst: In einem verpflichtenden Gesellschaftsjahr würde eine Menge Pflicht stecken – dann würde das Ihr Thema?
Hub: Zunächst einmal sprechen wir eher von einem Gesellschaftsdienst, denn um ein ganzes Jahr geht es hier nur selten. Der Wehrdienst hatte, als er 2011 ausgesetzt wurde, nur noch eine Dauer von sechs Monaten. Ich gehe nicht davon aus, dass Herr Pistorius vorhat, einen gesellschaftlichen Pflichtdienst einzuführen, auch wenn das Thema „dank“ einer Idee von Bundespräsident Steinmeier derzeit ganz oben auf der Agenda steht. Die Diakonie und weitere Sozial- wie Umwelt- und Sportverbände sprechen sich gemeinsam mit der EKD und auch der katholischen Kirche klar gegen einen solchen Pflichtdienst aus. Wir setzen auf die Freiwilligkeit und die intrinsische Motivation und daher auf den Ausbau der Freiwilligendienste. In dem Bereich gibt es noch reichlich Luft nach oben. Seit vielen Jahren ist im Bundeshaushalt bereits eine Fördersumme tituliert, die jährlich für rund 100.000 Menschen für jeweils zwölf Monate reicht.
baugerüst: Ich möchte einiges nachfragen, fange aber hiermit an: Warum sprechen Sie sich gegen einen verpflichtenden Gesellschaftsdienst aus?
Hub: Wir sind nicht gegen den gesellschaftlichen Dienst, nur gegen den Pflichtcharakter. Aus der protestantischen Verantwortungsethik heraus nehmen wir die Menschen eher als Bürgerinnen und Bürger wahr, die aus freiwilligen Stücken und einer inneren Überzeugung heraus bereit sind, zivilgesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Es ist nicht nötig, dass der Staat kommt und sagt: „Du musst das jetzt machen, egal, ob es dich überzeugt oder nicht“. Der zweite Grund ist die Frage nach Recht und Gesetz. Der Pflichtdienst ist laut wissenschaftlicher Gutachten, auch Seitens des Deutschen Bundestages, Zwangsarbeit – und die ist sowohl national als auch international verboten. Zumal das, auf einer dritten Ebene, in Deutschland auch zusätzlich historisch sehr belastet ist durch die Geschichte des Arbeitsdienstes im Nationalsozialismus.
Ein viertes Argument ist, dass wir von einem unvorstellbar teuren Konstrukt sprechen, für das sich bisher noch niemand die Mühe gemacht hat, explizit zu ermitteln, wie es finanziert werden kann und ob es politisch machbar ist. Die gesetzliche Hürde ist hoch, für eine Änderung des Grundgesetzes braucht man eine Zweidrittelmehrheit. Und eine Änderung wäre als „Geschäftsgrundlage“ nötig. Alle anderen Wege sind einfacher und schneller machbar, auch mit Blick auf die finanzielle Gestaltung, beispielsweise der Ausbau der Freiwilligendienste. Auch die Möglichkeit, den ruhenden Wehrdienst wieder zu aktivieren, ist denkbar.
baugerüst: Aber der ruhende Wehrdienst bezieht sich ausschließlich auf junge Männer. Das könnte interessante Debatten geben.
Hub: Genau. Das von der Union präferierte Gesellschaftsjahr soll ja für Männer und Frauen gelten. Ich finde es etwas absurd, dass die Union ausgerechnet an dieser Stelle mit der Gleichberechtigung argumentiert. Es gibt genügend andere Baustellen in der Gesellschaft, zum Beispiel die Debatte „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“. Es ist im Entwurf von Herrn Pistorius nur möglich, Frauen auf freiwilliger Basis mit anzuschreiben – denn nach bestehendem Gesetz können Frauen nicht zum Wehrdienst gezwungen werden.
Dazu kommt auch noch, dass die Bundeswehr weder Interesse noch Bedarf an sie- ben- oder achthunderttausend Wehrdienstleistenden hat. Selbst wenn man nur die Hälfte, also die Männer, heranzieht, sind es noch zu viele, es fehlen ja nur rund zwanzig- bis dreißigtausend Personen. Es liegt also die Hoffnung nahe, dass nur rund fünf Prozent den Fragebogen positiv beantworten und dass das dann auch noch genau jene Menschen sind, die von der Bundeswehr gebraucht werden – was wohl anspruchsvoll genug zu sein scheint.
baugerüst: Ich stelle mir vor, dass da auch ein enormer Logistikaufwand dahintersteckt, da sind doch sicher viele Strukturen zurückgebaut worden?
Hub: So ist es. Die Kreiswehrersatzämter mit entsprechenden Musterungsärzten bestehen zum überwiegenden Teil nicht mehr und auch Kasernen sind zurückgebaut oder in Stadtentwicklungsprozessen in zivile Neubaugebiete umgewandelt wor- den. Hausärzte könnten das auch nicht stemmen, zumal es in vielen ländlichen Gebieten ja gar nicht mehr ausreichend Allgemeinmediziner gibt. Entsprechende neue Strukturen zu schaffen braucht Zeit, sodass wir davon ausgehen, dass ein Vor- schlag erst mal im Koalitionsvertrag abgebildet und für die nächste Wahlperiode geprüft wird. Obwohl es viele Menschen gibt, die sich sorgen, dass wir von Feinden umzingelt sind und dass Putin demnächst die Nato angreift. Doch eine Bedrohungslage muss nachweislich beschrieben sein, sonst fehlt die Grundlage für eine politische Umsetzung.
baugerüst: Was wäre ihre alternative Vorstellung? Vergangenes Jahr wurde schwer debattiert, ob die Finanzierung der Freiwilligendienste im Bundeshaushalt zurückgefahren wird.
Hub: Seit 2017 ist die Höhe der Förderbeträge eingefroren, obwohl alles teurer geworden ist. Das Geld reicht ohnehin nur für eine bestimmte Anzahl von Plätzen. Bisher konnten die Zahlen aufrecht erhalten werden, indem mehr eigene Mittel in die Hand genommen wurden. Dass die Kürzung des Haushaltes im vergangenen Jahr erfolgreich zurückgenommen wurde, war ein hoher politischer Aufwand und mit viel Engagement verbunden, viele Freiwillige haben beispielsweise demonstriert. Jetzt droht dasselbe erneut und ob das angesichts der offenbar fehlenden 28 Milliarden Euro im Haushalt und der bestehenden Schuldenbremse erneut möglich ist? Die Kürzungen werden auch vor den Freiwilligendiensten wohl nicht haltmachen.
baugerüst: Aber das hätte einen enormen Impakt auf die Gesellschaft! Aus einem FSJler kann doch potenziell eine Fachkraft im sozialen Bereich werden.
Hub: Zumindest zu einem gewissen Prozentsatz. Der Fachkräftemangel besteht natürlich nicht nur im sozialen Bereich, sondern in allen Einsatzbereichen. Doch gerade für den sozialen Bereich würde man durch die Einsparungen bei den Freiwilligendiensten eine Tür zuschlagen für die Fachkräfte der Zukunft. Durch die Sparmaßnahmen torpediert die Regierung ihre eigene Fachkräftestrategie! Deshalb wären wir für einen „Rechtsanspruch“ auf Basis von Freiwilligkeit. Zudem könnte man auch Geld in die Hand nehmen für eine weitere Form des Engagements im Natur- und Katastrophenhilfebereich, wo ebenfalls ein enormer Mangel herrscht, sowohl im Bereich der Haupt- als auch bei den Ehrenamtlichen.
Bei den Freiwilligendiensten könnten wir innerhalb von ca. fünf Jahren aus 100.000 rund 200.000 Menschen für einen Freiwilligendienst in einem der Bereiche Soziales, Sport, Kultur und Ökologie gewinnen. Natürlich nur, wenn es die entsprechenden Mittel gibt. Wir hätten jetzt schon das Potential für bis zu 150.000 Plätzen – viele bleiben unbesetzt. Das wäre dann natürlich teuer, aber immer noch viel günstiger als das, was eine Dienstpflicht für einen gesamten Jahrgang an mehreren Milliarden kosten würde. Dazu kommt, dass man bei einem Pflichtdienst auch viele unmotivierte oder tendenziell gar ungeeignete Menschen einsetzen muss. Da haben wir auch eine Verantwortung dem Klientel gegenüber. Und: Bei sieben- bis achthunderttausend Stellen könnte die „Arbeitsmarktneutralität“, die vorgeschrieben ist für den Bereich der Freiwilligendienste, nicht mehr gewährleisten werden.
baugerüst: Gibt es noch andere Ideen, wie dieses Dilemma gelöst werden könnte?
Hub: Da würde ich gern den Begriff des o. g. „Rechtsanspruch auf einen Freiwilligendienstplatz“ nochmal erwähnen. Also statt der „Pflicht dazu“, das „Recht darauf“, etwas zu tun. Durch ein entsprechendes Gesetz könnte man die leidige Haushaltsdiskussion überwinden, da dann eben so viel Geld zur Verfügung gestellt werden muss, wie Interessierte da sind. Diesen Rechtsanspruch könnte man auch so allgemein halten, dass auch Herr Pistorius damit arbeiten könnte. Man könnte es das Recht auf einen Dienst in der Gesellschaft nennen, eben mit oder ohne Uniform. Oder, wenn man die Natur- und Katastrophenhilfe mitdenkt, in verschiedenen Uniformarten.
baugerüst: Man müsste dann natürlich auch dafür sorgen, dass das Angebot gut ist, damit die Menschen Lust haben, ihr Recht in Anspruch zu nehmen.
Hub: Genau. Wenn das Angebot unattraktiv ist, dann macht es eben niemand. Doch da gibt es viele Ideen. Beispielsweise ein kostenloses Deutschlandticket für alle, die einen Freiwilligendienst machen.
Rainer Hub ist bei der Diakonie Deutschland zuständig für den Bereich Freiwilliges soziales Engagement und Freiwilligendienste. Das Interview führte Arnica Mühlendyck (verantwortliche Redakteurin beim „baugerüst“ seit 2022) im Juni 2024 via Zoom-Call.
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Du findest weitere Artikel dazu in der Ausgabe 3/23 Friedens(t)räume.
Titelbild: Rainer Hub (Diakonie Deutschland)
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