Wir müssen über Politik sprechen!

Warum eine Verständigung wichtig ist und wie sie möglich wird
Darf eine Mitarbeiterin der Kirche, zum Beispiel die Diakonin in der Gemeinde, offen mit einer extrem rechten Partei sympathisieren? Oder ein Mitglied des Kirchengemeinderats? Oder andersherum: Wenn sie das tun, können sie dann noch in der Kirche arbeiten oder Verantwortung im Ehrenamt übernehmen? Manche Landeskirchen erarbeiten Handreichungen und fällen auf synodaler Ebene Beschlüsse. Die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz beispielsweise hat bereits zur Kirchenwahl 2019 eine Handreichung herausgegeben und 2024 nochmals bekräftigt, dass die „Mitgliedschaft oder tätige Unterstützung“ von Parteien mit menschenfeindlichen Aussagen mit der Übernahme von Ämtern in der Gemeinde und der Mitarbeit im „Verkündigungsdienst“ nicht vereinbar sind.1
Vor Ort ist das komplizierter: Eine Debatte über Politik – das wollen die meisten Kirchenmitglieder lieber nicht.2 Das Thema hat nicht so recht Platz zwischen Gottesdiensten, Gruppen und Kreisen. Und es soll doch um den Glauben gehen, um die frohe Botschaft. Und schließlich werfen rund um Kirchentage oder Wahlen immer wieder Politiker:innen aus der extremen Rechten der Kirche vor, sie bevormunde Menschen in politischer Hinsicht, statt die frohe Botschaft weiterzusagen.
Genauer hinsehen: Kirchengemeinde und politische Kultur
Eine große, bundesweite Studie der EKD3 hat, wie bereits frühere Studien, gezeigt, wie menschenfeindliche Einstellungen auch von Kirchenmitgliedern vertreten werden.4 Das ist nicht verwunderlich, denn eine Großkirche mit vielen Millionen Mitgliedern bildet immer auch sozial-
strukturelle Merkmale der Bevölkerung ab.
Zwar finden hier, vor allem unter hochreligiösen Mitgliedern christlicher Kirchen, rassistische, ausländerfeindliche oder islamophobe Äußerungen etwas weniger Unterstützung als in der Gesamtbevölkerung, sie erreichen aber immer noch hohe Werte.5 Im Bereich von Sexismus oder Homophobie gibt es unter stark Kirchenverbundenen sogar leicht überdurchschnittlich hohe Werte.6 Es lohnt sich also, genau hinzusehen und ins Gespräch zu kommen: Welche Haltungen lassen sich denn aus dem Glauben heraus begründen? Wofür oder wogegen sollten Christ:innen Position beziehen?
Diese Überlegungen braucht es, weil sich immer mehr Gemeinden politischen Debatten vor Ort gegenüber sehen. Das zeigt eine weitere Teilstudie im EKD-Projekt.7 Immer häufiger erleben Gemeinden vor Ort rassistische Übergriffe oder den Streit um Einrichtungen für Geflüchtete und andere marginalisierte Gruppen. Manchmal sind sie direkt von einer Auseinandersetzung betroffen, weil es um Einrichtungen in unmittelbarer Nachbarschaft oder sogar in den eigenen Räumen geht. Oder es sehen sich Gemeindemitglieder in der Pflicht, sich als Christ:innen in einem Streit zu verhalten. Den Verantwortlichen dieser Gemeinden fällt es nicht leicht zu sagen, welche Haltung „christlich“ oder „evangeliumsgemäß“ ist. Außerdem haben Christ:innen auch politische Präferenzen, sind konservativ oder liberal und leben mit verschiedenen Ideen für das Land oder
den Ort.
Politische Debatte statt froher Botschaft? Viele Gemeinden scheuen sich davor.
Die EKD-Studie hat die Konflikte erkundet, die daraus innerhalb der Gemeinde entstehen können. Dazu gehören auch latente Spannungen, wenn die Verantwortlichen versuchen, Streit zu vermeiden. Manche möchten „die Politik“ ausblenden, weil sie Sorge haben, dass von Debatten um politische Fragen die Einheit der Gemeinde bedroht ist. Außerdem fehlt die Erfahrung, wie Gespräche über politische Fragen als Bestandteil der Kommunikation in der Gemeinde gestaltet werden können. Aber klar ist: Wenn eine Gemeinde nicht unter Druck geraten möchte, wenn etwa eine Mitarbeiterin Sympathien mit einer extremen Partei äußert und Debatten über politische Fragen plötzlich unvermeidlich werden, dann sollte sie schon jetzt eine Kultur entwickeln, in der Verständigung eingeübt wird.
Politische Diskussion einüben: zwei Ansätze
Um politische Fragen angemessen zu bearbeiten, gibt es verschiedene Zugänge. In der EKD-Studie lässt sich beobachten, wie Gemeinden Wege suchen, die zu ihrer bisherigen Kultur gut passen. Manche fangen Spannungen in eingeübten Formaten und Ritualen auf und bieten Gelegenheiten zur Stärkung der Gemeinschaft, etwa in thematischen Andachten. Zugleich entwickeln sie Räume für die Verständigung über kontroverse Themen. Damit eine Verständigung gelingen kann, muss zunächst geklärt werden, inwiefern ein politisches Thema überhaupt als Thema der christlichen Gemeinde verstanden werden kann. Zwei Begründungslinien lassen sich in den Gemeinden beobachten: die Aushandlung mit Leitlinien einer biblischen Theologie und die Annäherung über Kirchenbilder und den Auftrag für die christliche Kirche.
Biblische Texte geben keine einfachen Antworten – doch sie können Dialog bewirken
Der Ausgangspunkt bei der Bibel ermöglicht es, politische Fragen mit Grundlinien des christlichen Glaubens zu verbinden und darüber ins Gespräch zu kommen, wie sich daraus Haltungen zu aktuellen Fragen entwickeln lassen. So können die Unterstützung für Geflüchtete oder die Haltung zum Thema Migration oder anderen Religionen im Mittelpunkt stehen, ebenso Fragen des Umweltschutzes – oder: der Bewahrung der Schöpfung – und soziale Fragen. Aus biblischen Texten sind kaum einfache Antworten ableitbar, etwa indem Gebote unmittelbar auf die heutige Situation übertragen würden. Aber im Rückgriff auf die Bibel können die Konflikte als eine Aushandlung religiöser Deutung verstanden werden. Und das kennen viele Beteiligte ja bereits: Es ist normal, dass Christ:innen aufgrund ihrer individuellen Ausdeutung biblischer Texte zu unterschiedlichen Sichtweisen kommen. Wo diese gegenseitig wertgeschätzt werden, weil deutlich ist, dass sie aus einer ernsthaften Reflexion im Glauben entstanden sind, lassen sich viele Konflikte nicht als bedrohlich, sondern als gewinnbringend erleben.
Ebenso kann die Frage, was die Aufgabe der christlichen Kirche ist und inwieweit davon politische Fragen betroffen sind, ein Ausgangspunkt sein. Wie soll sich etwa eine Gemeinde verhalten, wenn in der Parochie ein heftiger Streit um ein Infrastrukturprojekt, eine soziale Herausforderung oder eine Unterkunft für Geflüchtete aufbricht? Gegenstand der Aushandlung kann sein, welche Funktion die Gemeinde hier haben soll: Sie kann ein Ort der Begegnung von Menschen verschiedener Sichtweisen sein, kann auf diese Weise im Sozialraum Plattformen schaffen für den Austausch von Argumenten, einen Raum, in dem Aufmerksamkeit und Respekt das Miteinander bestimmen. Sie kann aber auch die Funktion bekommen, anwaltschaftlich Schwache zu schützen und die Interessen von Minderheiten zu vertreten. So werden aus den Ansätzen der Begründung, warum sich die Mitglieder der Gemeinde mit politischen Fragen befassen sollten, zugleich Grundlinien der Debatte selbst: Normative Grundlagen der Argumentation werden diskutiert und verschiedene Haltungen gegeneinander abgewogen. Argumente werden aus einer biblisch-theologischen oder kirchentheoretischen Haltung abgeleitet und miteinander in Beziehung gesetzt.
Orientierungspunkte in Aushandlungsprozessen
In diesen Schilderungen wird bereits deutlich: Die beiden Wege der Aushandlung politischer Fragen machen zwar ein Thema zum Thema der christlichen Gemeinde, so dass im Prozess dieser Aneigung klar wird, warum die Befassung angebracht ist und wie sie geschehen kann. Sie führen aber nicht zu einer schnellen Lösung, sondern zunächst in einen Aushandlungsprozess, der viel Aufmerksamkeit fordert.
Fast zwangsläufig entstehen kontroverse Sichtweisen, nicht nur über eine angemessene Deutung der Bibel, sondern auch über die Funktion der Kirche für die politische Kultur in der Gemeinde. Wenn die Gemeinde als Plattform zur offenen Begegnung und Aushandlung verstanden wird, wie kann dann im Glauben etwas als gut und richtig bewertet werden – oder eine Position abgelehnt werden, die die Menschenwürde nicht respektiert? Wie können Menschen mit unterschiedlichen Positionen Raum finden und gleichzeitig die Parteilichkeit für Betroffene, Benachteilig-te und Schutzbedürftige als Grundauftrag der Kirche im Blick bleiben? Wenn die Kirche als Raum der Wertschätzung verstanden wird, wo sind dann die Grenzen der Wertschätzung gegenüber Argumenten, die nicht vereinbar sind mit dem christlichen Glauben? Kann die Kirche ein demokratischer Ort für die Debatte unter mündigen Christ:innen sein – auf die Gefahr hin, dass Menschen in ihrer Mitte sich für Haltungen aussprechen, die andere für menschenfeindlich und darin nicht mehr evangeliumsgemäß halten?
Politische Positionen transportieren Haltungen gegenüber Fragen der Lebensgestaltung
Solche Fragen können nur in der gemeinsamen Aushandlung vor Ort beantwortet werden. Zwar ist es eine Hilfe, wenn eine Kirchenleitung sich positioniert und den Gemeinden Orientierung gibt. Aber die Abgrenzung gegen extreme politische Positionen mit Potenzial zu Rassismus, Islamophobie, Antisemitismus, Sexismus, Klassismus und anderen Abwertungen muss vor Ort umgesetzt und dabei auf die lokalen Gegebenheiten abgestimmt werden. Es braucht nicht nur Menschen mit der „richtigen“ Überzeugung, sondern Menschen mit Erfahrung im Dialog und Gelassenheit gegenüber Spannungen. Die grundsätzliche Spannung zwischen (potenziell) menschenfeindlichen Haltungen und dem christlichen Glauben zeigt sich zuverlässig, wo Christ:innen über politische Fragen miteinander ins Gespräch gehen. Und diese Spannung zutage zu fördern und für alle Beteiligten erfahrbar zu machen, ist die eigentliche Leis-tung eine Befassung mit politischen Fragen in der Gemeinde. Der Prozess dient in Folge nicht nur als Grundlage für unvermeidliche Abgrenzungen, sondern auch als Stärkung für alle Beteiligten angesichts kommender Herausforderungen.
Das Einüben einer politischen Kultur als Kern religiöser Kommunikation
Die Frage, warum sich eine Kirche mit politischen Fragen befassen sollte, nicht nur in einer unausweichlichen Situation, sondern auch präventiv, beantwortet sich implizit: Politik ist nicht etwas gänzlich anderes als die Kirche, eine fremde Welt, die mit dem Glauben keine Berührung hat. Sondern in politischen Positionen transportieren sich Haltungen gegenüber Fragen der Lebensgestaltung, die Christ:innen aus ihrem Glauben heraus reflektieren sollten. Damit ist das Einüben einer politischen Kultur in der Gemeinde in ihrem Kern religiöse Kommunikation.
Dr. Claudia Schulz ist Sozialwissenschaftlerin, Theologin und Professorin für Diakoniewissenschaft an der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg.
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Du findest weitere Artikel dazu in der Ausgabe 1/25 Faschismus
Titelbild: Demonstration vor einem Gemeindehaus (Foto: Claudia Schulz)
Literatur
- 1 Beschluss der V. Landessynode „Für Demokratie entschlossen einstehen und Dialog fördern“ auf der 8. Tagung der V. Landessynode April 2024. Drucksache 09.1.1. B.
- 2 Bewertung der „gesellschaftlichen Aufgabe“ der Kirche durch evangelische Kirchenmitglieder im Jahr 2020; vgl. Schulz, Claudia: Soll sich die Kirche mit aktuellen politischen Fragen beschäftigen? Positionen und Paradoxien im gesellschaftspolitischen Engagement von Kirche und ihren Gemeinden, in: Praktische Theologie 58/2023, Heft 1 (2023), 39-48, 40.
- 3 Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) (Hg.): Zwischen Nächstenliebe und Abgrenzung. Eine interdisziplinäre Studie zu Kirche und politischer Kultur, Leipzig 2022.
- 4 Vgl. Gert Pickel: Vorurteilsbelastete Kirchenmitglieder? Deskriptive Ergebnisse, in: EKD 2022, 43-56.
- 5 Vgl. Gert Pickel: Kirchenmitgliedschaft, Religiosität und Vorurteile gegenüber sozialen Gruppen, a.a.O., 67-80, 72.
- 6 Ebd., 77.
- 7 Claudia Schulz/Manuela Barriga Morachimo/Maria Rehm: Kirchengemeinden in Aushandlungsprozessen um politisch-kulturelle Themen, in: EKD 2022, 169-239.
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